"Ich denke, die
größte Angst vor dem Tod kommt daher, dass Menschen das Gefühl haben, sie
hätten nie wirklich gelebt. Sie haben Angst zu sterben, weil ihre Leben
unfertig sind."
Ich kann mir nicht wirklich vorstellen wie das ist. Nein,
nicht das Sterben, sondern dieses Gefühl nicht richtig gelebt zu haben. Meine
Mutter, sie starb in genau dem Alter in dem ich mich jetzt befinde, hatte
dieses Gefühl wohl. Das waren so viel Traurigkeit, so viel Zorn auf all die
Ungerechtigkeiten und falschen Entscheidungen in ihrem Leben und so viel Angst
vor dem Gehen müssen. Ich glaube, wir haben das letzte halbe Jahr damit
verbracht ihr Leben zu sortieren und das einmalig Wunderbare in jedem
Lebensabschnitt heraus zu arbeiten. Ja, am Schluss waren da mehr Gelassenheit
und weniger Zorn. Aber, so richtig bereit zum Gehen war sie nicht.
Wenn ich an meinen Tod denke, dann habe ich das mir sehr
früh geschenkte Bild von Castanedas Don Juan im Kopf, dass dir der Tod ein
Leben lang über die Schulter guckt. Manchmal grüß ich ihn, manchmal halte ich
Zwiesprache mit ihm und sehr oft halte ich inne und ziehe Resümee über mein
bisheriges Leben und stelle mir vor, wie es sein würde, wenn er mich jetzt
auffordern würde mit ihm zu gehen. Meistens würde ich ihm unbeschwert folgen
können. An den Tagen, wo es nicht so ist, schaue ich mir genau an, woran es
liegen könnte, was ich nicht loslassen will in diesem Moment und versuche es zu
entwurschteln.
Und so komisch es sich anhören mag, grundsätzlich überwiegt
doch die Neugierde meine Traurigkeit. Sterben und der Tod sind für mich das
letzte Abenteuer, das ich nicht gedanklich vorwegnehmen, nicht vorfühlen und
nicht durch innere Bilder und Filme vorab banalisieren kann. Ich kann es nur
erleben, indem ich es irgendwann real leben werde. Den Tod (er)leben - was für
ein irres Sprachgebilde.