Von den Alten lernen heißt lieben lernen
Laut einer neuen Studie sind 80-Jährige zufriedener mit
ihrem Liebesleben als 50-Jährige. Was ist das Sex-Geheimnis der Senioren?
Der Generationenkonflikt macht auch vor dem Sex nicht Halt.
Nachdem die jüngeren Generationen hinnehmen mussten, dass die Alten nach wie
vor mehr Macht und bessere Renten haben, trumpfen unsere älteren Mitbürger nun
auch in Liebesdingen auf. Einer Studie des Britischen International Longevity
Centers zufolge, an der mehr als 7000 Menschen teilgenommen haben, sind
80-Jährige deutlich zufriedener mit ihrem Sexleben als Menschen in ihren
Fünfzigern. Wie kann das sein? Was ist das Geheimnis der bumsfidelen Senioren?
Hier ein paar Mutmaßungen:
Menschen über Achtzig haben in der Regel keine
pflegebedürftigen Eltern und auch keine Kinder mehr im Haus, können also zu
jeder Tages- und Nachtzeit Sex haben, nackt durchs Haus laufen, Liebesschaukeln
installieren oder Pornos gucken, ohne dabei andere Familienmitglieder zu
traumatisieren. Auch die direkte Konfrontation mit der exzessiven Libido
frischverliebter Teenager, die sich bei Eltern in der Mitte des Lebens negativ
auf das eigene Liebesleben auswirken könnte, ist mit über achtzig Jahren nicht
mehr gegeben. Hinzu kommt, dass Menschen über Achtzig oftmals schlecht hören.
Wenn sie in Seniorenwohnheimen Tür an Tür miteinander leben, können sie beim
Sex so laut werden, wie sie wollen, ohne dabei schlafende Babys zu wecken oder
Nachbarn zu stören.
Die Studie gibt einen weiteren Hinweis auf den Grund für die
Zufriedenheit der Alten mit ihrem Sexleben: Sie fühlen sich - anders als die
50-Jährigen - viel weniger verpflichtet, überhaupt Sex zu haben. Kein »Wir
sollten mal wieder«-Sex, kein »Sonntags nach dem Tatort«-Sex, kein »Wir haben die
Kinder extra bei der Oma geparkt und ein teures Hotelzimmer gebucht«-Sex, kein
»Laut Umfragen hat der Durchschnittsdeutsche zwei Mal pro Woche Sex, wir dürfen
auf gar keinen Fall unterdurchschnittlich sein«-Sex. Von Achtzigjährigen
erwartet niemand mehr irgendetwas, sie sind frei von jedem gesellschaftlichen
Druck und können genau das Sexleben haben, das sie zufrieden macht. Auch wenn
das bedeutet, nur einmal im Monat oder einmal im Jahr oder überhaupt nie oder
einfach nur ganz entspannt mit sich selbst Sex zu haben.
Achtzigjährige sind meist auch über den Umstand hinweg, dass
sie alt sind. Während die 50- bis 70-Jährigen noch vergeblich gegen Falten und
Altersflecken ankämpfen, für irgendeinen Halbmarathon trainieren und sich
verzweifelt einreden, sich eigentlich noch genauso jung und fit zu fühlen wie
mit 30, sind 80-Jährige längst in einen friedvollen Zustand der Akzeptanz
übergetreten. Sie ziehen ihre Bäuche nicht mehr ein, lassen hängen, was eben
hängt. Und machen sich beim Sex keine großen Gedanken mehr darum, welchen
optischen Eindruck sie dabei hinterlassen - das ist ohnehin die wichtigste
Regel für ein zufriedenstellendes Liebesleben.
Das nahe Lebensende macht Achtzigjährige außerdem
risikofreudiger, was etwa die möglichen Nebenwirkungen von potenzsteigernden
Mitteln betrifft. Muss sich der Fünfzigjährige noch Sorgen machen, wer seinen
Kindern die Ausbildung finanziert, falls er an einem durch Viagra-Abusus
herbeigeführten Herzinfarkt sterben sollte, sagt sich der Achtzigjährige:
Lieber in Inge sterben als im Pflegeheim! Her mit den blauen Pillen!
ALENA SCHRÖDER in der SZ, 01. MAI 2017
Vor dem Tod kommt das Sterben
Wem die Gunst gegeben ist, der hat noch Zeit, in seinem
Leben aufzuräumen und es abzuschließen. Eva hat ihren Frieden gefunden. Zwei
Briefe hat sie noch geschrieben, sie werden nach ihrem Tod aufgegeben
Zuerst ist die Verzweiflung da und der Schock: Diagnose
Krebs. Ein zweites Mal, nach vier Jahren der Ruhe. Die Krankheit schien schon
überwunden. Dann kommt das Aufbäumen, das Nichtwahrhabenwollen. Die Hoffnung,
dass es nicht so ernst ist, aber auch die Ahnung: Das Ende kommt. Ganz
bestimmt. In absehbarer Zeit.
Das Hadern und die Wut. Warum gerade ich? Die Verdrängung
und die Depression, der Rückzug, die Isolation, die Freunde gehen.
Hilflosigkeit auf allen Seiten. Das Schweigen. Die Zeit wird knapp. Was ist aus
ihr geworden?
Eva hat ihr spätes Glück gefunden. Mit 60 Jahren hat sie ein
zweites Mal geheiratet, einen Seelenverwandten, wie sie sagt. Endlich
angekommen, Zeit zu zweit. Ein Jahr später kam der Brustkrebs. Sie habe nicht
aufgegeben, vor allem ihrem Mann zuliebe. "Ich habe wirklich
gekämpft", sagt Eva. Jetzt nicht mehr. Vor einem halben Jahr kamen die
Metastasen. Dann war alles klar.
Eva hat die Verzweiflung, die Angst und die Tränen hinter
sich gelassen.
Eva ist jetzt 66 Jahre alt. Sie sitzt in einem gemütlichen
Polstersessel auf der Palliativstation der Caritas Socialis am Rennweg in Wien,
sie trägt eine Haube, die ihren kahlen Kopf bedeckt, hinter der Brille funkeln
wachsame, freundliche Augen. Eva freut sich über den Kaffee, den die Schwester
bringt. Schwer zu glauben. Aber es ist Zeit zu gehen. Wir reden über den Tod.
Vielleicht noch Wochen, vielleicht auch nur Tage. Das weiß niemand, auch Eva
nicht.
Zeit hat für sie an Bedeutung verloren. Auch das Leben.
"Ich klammere nicht mehr." Ein paar schöne Tage will sie noch haben,
nichts Aufregendes: sitzen, ein paar Zeilen lesen, Ruhe haben. Sie genieße die
Herzlichkeit, mit der ihr im Hospiz begegnet wird. "Die Gedanken sind
langsam geworden", sagt sie. Fixpunkte sind die Mahlzeiten und die Besuche
ihres Mannes.
"Mein Mann leidet mehr als ich", erzählt sie. Er
versuche, den Starken zu spielen. "Es geht ihm nicht gut, aber er zeigt
das nicht." Ihr Mann versuche, alles für sie zu machen. "Ich werde
seine Unterstützung brauchen", sagt sie. Nach einer Pause: "Ich bin
froh, dass er mich nicht verlassen hat."
Eva möchte noch einmal nach Hause, nur für ein paar Tage,
wenn das geht. Mit ihrem Mann allein sein, mit ihm Zeit verbringen. Vielleicht
einmal noch spazieren gehen. Ein Spaziergang durch die Lobau, so wie früher,
als sie stundenlang gewandert sind. Aber das wird sie nicht schaffen.
"Aber ich komme keine zehn Meter mehr, ich bin schwach." Es ist auch
nicht wichtig. Zu nahe ist das, worauf sie sich einstellt. Zum Sterben wird sie
wieder ins Hospiz kommen. Das ist ihre Perspektive, das gibt ihr Sicherheit.
Das Sterben ist Teil des Lebens, Eva nimmt das an. Danach
kommt der Tod. "Ich hatte lange genug Zeit, mich darauf
vorzubereiten." Keine Wehmut, keine Tränen, keine Trauer. Eva ist
pragmatisch.
Sie war bereits beim Bestattungsunternehmen, hat auch ihren
Mann dorthin geschleppt, wie sie sagt. Sie lacht: "Der Arme." Alles
ist vorbereitet. "Ich will es auch ihm leichter machen." Sie hat
Ordnung gemacht, das Leben hinter sich aufgeräumt. Nicht alles konnte sie
erledigen, es bleibt auch ein Schmerz zurück, aber jetzt ist es Zeit, einen
Schlussstrich zu ziehen. "Ich hoffe, dass es nicht mehr allzu lange
dauert, das ist auch belastend."
Eva hat auch Briefe geschrieben. Darüber wollte sie
eigentlich nicht reden. Wir kommen dennoch drauf. Gibt es etwas, das sie
bereut, was sie lieber anders gemacht hätte? Was man eben fragt, wenn man einer
Frau gegenübersitzt, die am Ende ihres Lebens steht. Hat sie Resümee gezogen?
Sucht sie Verzeihung? Will sie verzeihen? Gehört das dazu, wenn man in seinem
Leben Ordnung macht und abschließt?
Eva erzählt das ohne Wehmut. Aber mit Bedauern. Es sei kein
einfaches Leben gewesen, das sie geführt hat. Sie hat viel erlebt, nicht alles
sei schön gewesen. Eva kommt aus Polen, dort hat sie ihren ersten Mann
kennengelernt. Mit 19 hat sie geheiratet, nach der Matura, statt zu studieren.
Das war keine gute Entscheidung, sagt sie. "Ist das jetzt Thema Ihres
Artikels?" Sie macht es dazu. Zwei Söhne, ein paar Jahre in Kuwait, die
Trennung. Das war schmerzhaft. Zurück in Polen, konnte sie nicht mehr Fuß
fassen, wanderte nach Wien aus.
Die beiden Söhne ließ sie zurück. Dem folgte ein Zerwürfnis,
das nie wieder gekittet werden konnte. Es gab sporadischen Kontakt mit den
Söhnen, immer seltener, die Vorwürfe waren bitter. Ein paar Anläufe noch, aber
keine Aussöhnung. "Ich habe damit abgeschlossen."
Das Leben war ein ständiger Kampf. Aber das Positive
überwiegt. Sie sei viel gereist, habe Sprachen gelernt, viele Menschen
kennengelernt, hat schließlich einen Beruf gefunden, der ihr Freude gemacht
hat: Sie war Krankenpflegerin in einem kleinen Spital in Wien. Sie hat ihren
zweiten Mann gefunden. "Dann ist es richtig schön geworden." Bis die
Diagnose kam.
Als sie sich auf das Sterben vorbereitet hatte, hat sie
Briefe an ihre Söhne geschrieben. Viele Versuche, immer länger. Es sind
dutzende Briefe geworden, Eva hat sie alle verworfen. Sie konnte nicht
erklären, was passiert ist und warum. Es sind schließlich zwei kurze Briefe
geworden, an jeden Sohn einen. "Ich habe sie immer in meinen Gedanken und
in meinem Herzen gehabt." Ihr Mann wird die Briefe zur Post bringen, wenn
sie gestorben ist.
Jetzt, beim Reden, erzählt Eva noch etwas, was sie
eigentlich auch nicht erzählen wollte. Ihr Mann weiß das nicht. Sie habe sich
umbringen wollen. Paradox klingt das. Aus Angst vor dem Tod. Im Krankenhaus war
sie verzweifelt, die Schmerzen, die Therapien, die Behandlung durch Ärzte und
Pfleger. "Ich habe nur geweint." Sie sei nicht als Mensch
wahrgenommen worden. Wie eine senile und entmündigte Person.
Immer schwächer sei sie geworden. "Ich wollte mich
nicht quälen bis zur letzten Minute und elendiglich zugrunde gehen." Dann
habe sie eine Patientenverfügung verfasst, alle Therapien abgebrochen und einen
Entschluss gefasst. "Bevor sie mich hier umbringen, bringe ich mich selber
um. Aber ich habe diesen Gedanken nie ausgesprochen."
Durch einen Zufall habe sie vom Hospiz der Caritas erfahren,
Kontakt aufgenommen. Vor zehn Tagen ist sie aufgenommen worden. "Hier hört
man mir zu, es gibt Leute, die meine Hand halten. Ich habe meine Ruhe. Aber
jetzt müssen wir aufpassen, dass wir keine Werbebroschüre schreiben", sagt
Eva und lacht. "Ich kann das Hospiz niemanden als Perspektive
empfehlen", antworte ich, ein unbeholfener Scherz, der nicht ankommt.
"Da muss ich Ihnen widersprechen", sagt Eva ernst,
"ich kann das schon empfehlen." Sie winkt der Schwester auf dem Gang
zu. Die Schwester winkt fröhlich zurück. Es ist unheimlich. Hier wird
gestorben. Und dennoch so viel gelacht. Die Menschen sind freundlich. Nur die
Angehörigen schleichen gedrückt durch die Gänge.
Eva ist ehrlich dankbar für die Aufmerksamkeit und die
Wärme, die ihr hier entgegengebracht werden. So seltsam es klingen mag: Die
Frau wirkt zufrieden. Sie ruht in sich. Die Angst habe sie überwunden,
"ich lasse sie nicht mehr zu". Sie sei ins Reine gekommen. Mit sich,
mit dem Leben, mit den anderen. "Ich weiß jetzt, was kommt."
Sie wird sterben, und sie ist froh zu wissen, dass es hier
sein wird. Der Tod ist kein Phänomen, sondern eine Tatsache. Er hat nichts
Spektakuläres an sich, und dennoch bleibt er ein Geheimnis für diejenigen, die
zurückgelassen werden.
"Alles ist unwichtig geworden", stellt Eva fest.
Sie lächelt. Die Zeit hat keine Dimension mehr. "Es ist nicht leicht, die
richtigen Worte zu finden, um Ihnen das zu erklären", bedauert sie.
"Was ist schon Zeit? Aber das ist jetzt Ihr Problem." Das Gespräch
hat sie sehr gefreut, sie bedankt sich. "Vielleicht geht es sich noch aus,
dass ich Ihren Artikel lese." Nicht, dass das wichtig wäre.
(Michael Völker, 31.10.2016, derstandart.at)
Wenn ein Mensch stirbt, den man liebt
written by Jessica B. Wagener
In dem Moment, als ich die Tür
öffne, weiß ich es.
Oma stirbt.
Sie liegt auf dem Rücken, ihre
Arme rechts und links auf der weißen Krankenhausdecke; sie sind prall, voller
Wasser. Ihr Mund steht ein bisschen offen – wie immer, wenn sie schläft. Ihre
runde Nase sieht spitzer aus als sonst, ihre Haut ist glatter als ich es
erinnere. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich regelmäßig. Doch ihrer Lunge fällt
das Atmen schwer; immer wieder tiefes, angestrengtes, rasselndes Einatmen.
„Omi?“, flüstere ich, ich will
sie nicht erschrecken. „Hörst du mich?“ Keine Reaktion. Sie schläft tief und
fest. „Omilein? Ich bin’s.“ Vorsichtig berühre ich ihre Hand. Nichts. Nur das
Fauchen der Luft in ihrem offenen Mund und das Sprudeln des Sauerstoffs im
Hintergrund. Ich bin gestern von einer sehr notwendigen Reise zurückgekommen –
auch Oma hat darauf bestanden, dass ich sie mache. „Ich weiß, dass du in
Gedanken immer bei mir bist. Ich hab dich lieb. Ich hab dich liehieb!“, sagte
sie am Telefon und ich konnte nicht ahnen, dass es ihre letzten Worte an mich
waren. Als ich losflog, war die Lage lange nicht so dramatisch.
Oma hat auf mich gewartet.
Ich will meine Tasche abstellen
und stoße mit dem Bein gegen den Stuhl. Es rummst und sie öffnet die Augen. Sie
sind riesengroß. „Todesaugen“ wird der Arzt sie später nennen, aber das weiß
ich da schon, ohne es zu wissen. Und ich weiß auch, was ich jetzt tun muss.
„Ich bin hier, Omi. Wie ich es
dir versprochen habe. An deiner Seite. Du muss überhaupt keine Angst haben. Mit
mir an deiner Seite brauchst du dich vor nichts zu fürchten. Das weißt du doch,
oder?“ Ich war schon immer die Starke, der Fels.
Ein kleines Nicken, bevor ihr
Blick mit den großen Augen ruhelos im Zimmer umherschweift. Rechts, Links,
Decke.
„Hast du Schmerzen, Omilein?“
Sie schüttelt sachte den Kopf.
„Hast du Durst?“
Nicken.
„Na, dagegen kann man doch was
tun!“
Ich öffne den Schnabelbecher.
„Soll ich mischen, Omi? Halb und halb mit Apfelsaft, wie du es gern magst?“
Nicken.
Ich helfe ihr beim Trinken. Ihre
Lippen schließen sich vorsichtig um den Schnabel und sie schluckt, dann sinkt
sie erschöpft etwas tiefer ins Kissen.
Ich nehme meinen ganzen Mut
zusammen, streiche ihr über das grauweiße Haar.
„Du weißt, was los ist, Omi?“
Ein fast unsichtbares Nicken.
„Okay. Aber ich bin hier, also
kann dir nichts passieren. Ich hab dich lieb.“
Die Tür geht auf und ein Arzt
kommt rein. „Guten Tag“, sagt er und ich frage mich, was er meint. Und ich
denke: Wenn als Angehörige in ein Krankenhaus kommt und den Arzt nicht mühevoll
auftreiben muss, sondern er von sich aus erscheint, dann ist es ernst. Also frage
ich: „Wollen wir hier sprechen oder lieber unter vier Augen?“ Er überlegt kurz.
„Lieber unter vier Augen.“ Wir gehen raus. Vor dem Zimmer erklärt er mir, was
los ist.
Oma hatte zwei Infekte, die sie
sehr geschwächt haben. Aber das eigentliche Problem ist der Bauchfellkatheter.
Er musste zu früh in Betrieb genommen werden, weil Omas Nieren bereits versagt
haben. Darum konnte er nicht richtig einheilen – ein Leck entstand. Das Ende
der Dialyse. Das Ende von Omas Leben.
„Wir könnten sie jetzt
theoretisch noch an die Hämodialyse anschließen. Aber das würde sie nicht
überstehen und das wäre auch nicht mehr human.“
Mein Magen verklumpt. Ich weiß,
dass er Recht hat. Ich weiß es, seit ich die Tür aufgemacht habe. Ich hole
Luft.
„Was würden Sie denn mit Ihrer
eigenen Mutter machen?“
„Ich würde sie nicht unnötig
leiden lassen.“
Ich merke, wie mein Hals
zuschwillt.
„Haben Sie hier eine
palliativmedizinische Abteilung.“
Er verneint.
„Arbeiten Sie mit mobilen
Palliativdiensten zusammen?“
Er schüttelt den wattig behaarten
Kopf.
„Okay. Dann sind Sie also der
Mann, der den Weg meiner Oma auf die andere Seite gestaltet?“
„Hm, ja. Wenn man so will…“ Ich
glaube, einen Hauch von Güte in seinen Basset-Augen ausmachen zu können.
„In Ordnung. Verstanden. Dann
reden wir Klartext: Wie können wir gewährleisten, dass es möglichst schmerz-
und angstfrei wird? Was können wir tun? Was kann ich tun? Oma hat sich in den
letzten Jahren echt genug gequält!“ Meine Stimme bricht.
Er erzählt was von Morphium und
Beruhigungsmitteln und Dämmerzustand und ich weiß es doch auch alles nicht.
Sobald er weg ist, rufe ich bei
einem Palliativteam an. Und die erklären mir: Die größten Schwierigkeiten beim
Sterben sind Loslassen, Luftnot, Durst, Schmerzen und Angst. Gegen alles gibt
es Mittel, nur beim Loslassen hilft nichts.
Das bespreche ich anschließend
mit dem Arzt. Er setzt sämtliche Medikamente ab und bereitet Morphiumspritzen
vor. Dann rufe ich meine Großkusine an. Jeder, der noch will, soll jetzt
kommen. Aber sie waren in der vergangenen Woche alle schon da, Oma hatte jeden
Tag Besuch: ihre ehemalige Haushaltshilfe und Freundin, meine Mutter, meine
Schwester und ihr Freund, die Schwester meiner Oma, ihre Lieblingsbetreuerin
aus dem Heim, meine beiden Großkusinen. Auch Omas Großnichte, die auf der
Station nebenan arbeitet, hat in den vergangenen Wochen täglich nach ihr
geschaut. „Sie hat sich so gefreut über den Besuch und gesagt ‚Wie schön, dass
alle noch mal kommen‘.“
Sie hat es gewusst.
Leise öffne ich die Tür und gehe
zurück zu Omi. Sie liegt da und mein Herz brennt. „Hey, Omi“, sage ich. Sie
schaut mich an und dann wieder rastlos in der Luft umher. „Der Arzt sagt, wir
kriegen das alles hin.“ Ich atme ein paar Mal. „Es gibt richtig schöne
Morphiumspritzen. Wie bei deinem kleinen Bruder, weißt du noch? Alles wird
flauschig. Ich verspreche dir: Es wird nicht weh tun. Und ich bin hier, an
deiner Seite.“ Sie schließt die übergroßen Augen und nickt langsam.
Ich gehe um den Tisch, so
hilflos, nehme das Parfüm und sprühe etwas davon auf ihre Decke.„Nur, weil man
sterbenskrank ist, kann trotzdem gut duften.“ Auf Eleganz hat Oma stets Wert
gelegt. Es ist das Parfüm, das ihre eigene Mutter immer benutzte und vielleicht
hätte ich mir etwas dabei denken sollen, als sie es sich vor einigen Wochen
gekauft hat.
Kaum hörbar geht die Tür auf,
meine Großkusine betritt das Zimmer. Wenig später kommt meine andere Großkusine
dazu. Ich müsse das auf keinen Fall allein machen, sagen sie und ich bin ihnen
unendlich dankbar. Mit der liebenswürdigen, gütigen, geduldigen Schwester
Madleen besprechen wir die Morphium-Dosis. Oma hat ja schon lange
Morphin-Tabletten bekommen und braucht daher mehr. „Bitte geben Sie ihr alle
zwei Stunden oder so eine Spritze. Das Allerwichtigste ist jetzt, dass sie
nicht leidet. Keine einzige Sekunde mehr.“
Und so sitzen wir zu dritt um
Omas Bett und erzählen die alten Geschichten. Wisst ihr noch… Damals, als… Oma
ist immer mal wach und döst dann wieder weg. Sie ist nicht allein, sie wird
geliebt. Die Zeit verstreicht unbeachtet, die Sonne geht unter und der Himmel
glüht in allen Farben. Direkt vor Omas Fenster und genau in dem Winkel, dass
das Spektakel sehen kann, ohne den Kopf zu bewegen.
Oma nickt nicht mehr, sie kann
auch nicht mehr schlucken. Unsere Gespräche verebben. Ich singe das Lied, das
Oma mir immer zum Einschlafen vorgesungen hat, als ich klein war und in ihrem
Bett schlafen durfte. „Wer steht da draußen und klopfet an? Dass ich die ganze
Nacht nicht schlafen kann…“ Dann sind wir still und schauen der Sonne beim
Abschied zu.
Es gibt ein Wort dafür. Frieden.
Irgendwann verabschieden sich
meine beiden Großkusinen, ich bleibe. Schwester Madleen kommt rein. Bevor sie
die höher dosierte Spritze setzt, lege ich sachte eine Hand auf Omas Wange und
schaue ihr in die Augen, ganz tief. Sie schaut zurück, sie sieht mich direkt
an, dieses eine Mal noch. „Auf Wiedersehen, Omi. Meine Liebe“, sage ich und
lächle mit nassen Wangen. Sie schließt die Augen.
Oma und ich sind allein. Ich lege
meine Hand auf ihre und rede leise, während meine Tränen immer schneller auf
das Krankenhauslinoleum tropfen.
„Ich weiß nicht, ob du mich
hörst. Aber ich danke dir für deine Liebe, von ganzem Herzen. Danke, dass du
mich großgezogen hast. Ich weiß, dass du gesagt hast, ich hätte es am
schwersten, wenn du gehst. Aber mach dir keine Sorgen um mich, Omilein. Ich
werde das überstehen. Ich habe schon so viel überstanden. Und du wirst immer,
immer bei mir sein, egal, was ich tue, wohin ich gehe. Um Opi musst du dir auch
keine Sorgen machen, dem geht’s gut und ich passe auf ihn auf. Es ist alles
erledigt, Omi. Wenn du magst, kannst du gehen. Du hast genug gelitten. Du musst
auch keine Angst haben. Es ist okay, wirklich. Es ist in Ordnung…“
Die letzten Silben sind ein
einziges großes Schluchzen.
Omi atmet gleichmäßig und nicht
mehr rasselnd.
Und dann fange ich unvermittelt
an zu beten.
„Lieber Gott, ich weiß, wir haben
uns lange nicht gesprochen, aber wenn es dich gibt und du nicht sauer auf mich
bist – könntest du bitte machen, dass Omis Weg jetzt ganz leicht wird? Sie war
ein guter Mensch und hat sehr viel Liebe hier gelassen und es wäre schön…“
Omi schläft jetzt ganz tief und
ich werde stumm.
Ich weiß nicht, wie lange ich da
so gesessen habe, aber es ist schon dunkel draußen, als eine innere Stimme sehr
klar sagt: „Du solltest jetzt besser gehen. Das ist der Moment.“ Ich
widerspreche nicht, nehme meine Sachen, ein letztes „Auf Wiedersehen, ich liebe
dich“, ein Winken, dann schließe ich die Tür. Es ist in Ordnung.
Meine Zähne tun innen weh vom
Weinen und ich kann nicht aufhören und weiß nicht, wie ich den Weg zur Wohnung
meiner Schwester, die zusammen mit meiner Mutter nicht in Deutschland ist,
finde, aber ich schaffe es, irgendwie. Ich falle ins Bett, nehme eine
Schlaftablette, um halb sechs wache ich auf und mache mich fertig, um ins
Krankenhaus zu fahren. Als ich den Kaffeebecher abstelle, um loszugehen,
klingelt mein Telefon. Es ist die Klinik, es ist 7:29 Uhr. Ich setze mich.
„Sind Sie Frau Jessica Wagener?“
„Ja.“
„Ihre Großmutter ist heute Morgen
um zehn nach Sieben gestorben.“
„Okay. Okay. Kann ich sie noch
mal sehen und mich verabschieden?“
„Aber natürlich.“
Ich lege auf und rutsche aus dem
Stuhl auf die Knie, mein Mund offen in einem stummen Schrei. Dann rufe ich
Menschen an, dann sitze ich in einem Taxi, dann stehe ich vor einer weißen Tür
in einem Krankenhaus.
Ohne zu zögern öffne ich sie. Omi
sieht aus wie gestern, den Mund ein bisschen offen – wie immer, wenn sie
schläft. Nur die lachsfarbene Rose zwischen den gefalteten Händen ist anders.
Ich setze mich neben sie und schaue sie an. Ach, Omi. Omi, bist du wirklich
tot? Ich starre auf ihren Brustkorb. Hat er sich nicht grad bewegt? Ich lege
meine Hand auf ihre und sie fühlt sich fast so an wie immer und ich versuche,
unser Schlaflied zu singen, aber es geht nicht, weil ich so weinen muss.
Schwester Madleen kommt rein und
wünscht mir leise herzliches Beileid. Sie weiß, welche Frage mich aufwühlt,
ohne dass ich sie stelle. „Keine Sorge, sie ist nicht mehr aufgewacht, sie hat
die ganze Nacht tief und fest geschlafen, ich habe immer wieder nachgesehen. Es
war alles ganz friedlich.“ Und sie weiß auch, was mich noch quält. „Manche
Menschen können erst richtig loslassen, wenn sie allein sind.“ Mein Dank kennt
keine Worte, also umarme ich sie.
Meine Kusine, die in der Klinik
arbeitet, kommt rein und umarmt mich. Wir haben uns Jahrzehnte nicht gesehen,
aber so fühlt es sich nicht an. Sie erzählt ein bisschen von Omas letzter Woche
und wie glücklich sie über den vielen Besuch war.
Wenig später kommt meine
Großkusine und hilft mir mit den Anrufen und den Sachen und allem und ich bin
so froh darüber, nicht allein zu sein. Dann fahren wir zu Opa ins Pflegeheim,
ich will es ihm selbst sagen.
Ich setze mich an sein Bett,
nehme seine knorrige Hand. „Opi, du weißt ja, dass Omi sehr krank war.“ Sein
Gesicht bewegt sich nicht. „Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten. Die
Oma ist heute früh verstorben.“
„Ach was?“ sagt er knapp und
obwohl sein Gesicht ausdruckslos bleibt, liegt Entsetzen in seiner Stimme.
Ich erzähle ihm alles, jedes
Detail, ganz langsam und in aller Ruhe.
„Es war friedlich und schmerzfrei
und liebevoll. Es gab einen Sonnenuntergang und ich habe für sie gesungen. In
ihrem letzten wachen Augenblick war sie nicht allein. Und es hat nicht
wehgetan.“
Nach minutenlanger Stille sagt
Opa nachdrücklich „Ich habe das gespürt. Heute morgen um sieben bin ich
aufgewacht und ich habe das gespürt.“ Ich weiß, dass es diesmal nicht seine
Demenz war. Und ich weiß auch, dass wir das ertragen können, als Familie.
Als ich mich am Nachmittag
schließlich zurück zur Wohnung meiner Schwester schleppe, komme ich an einer
Kleingartenkolonie vorbei. Es ist ein wunderbarer, satter Spätsommertag, die
Luft vibriert vor lauter Leben. Das letzte Aufbäumen, bevor im Herbst alles
stirbt. Plötzlich höre ich Oma, sehr deutlich: „Sei nicht traurig, mein Kind.
Es geht mir gut, gut geht es mir! Ich bin munter und fidel. Ich habe keine
Schmerzen mehr. Wenn ich gewusst hätte, wie schön das ist – ach, ich wäre schon
viel früher gegangen.“
Es sind Momente wie diese, an
denen ich mich ausdrücklich nicht für verrückt halte.
Da steht ein ausladender Baum,
restlos angefüllt mit reifen Äpfeln. Wieder Omas Stimme: „Ooooh, guck dir den
Baum an! So viele Äppel! Ach, Kind – sei nicht traurig. Weine nicht. Freu dich
lieber über das Leben, über die Natur. Die Natuuurrr!“
Ich muss unwillkürlich lächeln.
Keine Ahnung, ob es ein Leben nach dem Tod gibt und wie das aussieht. Aber Omi
geht es gut, wo oder was auch immer sie jetzt ist. Ja, das Leben ohne sie wird
nicht leicht, sie fehlt so sehr. Ihre Witze, ihr Rat, ihre Umarmungen. Ein
Leben ohne Oma fühlt sich an, als hätte jemand die warme Decke weggenommen.
Aber über zehn Jahre Kampf, Krankheit, Qual, Not und Elend sind endlich zu
Ende. Und wir werden sie immer, immer bei uns haben. Ihre Stimme, ihre
Kommentare.
Vor allem jedoch ihre Liebe.
Wo jeder seinen Namen kennt
Von MARC BÄDORF
19. September 2016
Vor einigen Jahren fuhr ein alter Mann mit dem Namen Walter
Meier zum ersten Mal seit langer Zeit wieder mit einer Achterbahn. Es war ein
Sommertag, und Herr Meier näherte sich in jenem Sommer seinem 80. Lebensjahr.
Vor der Bahn „Colorado“ im Phantasialand hatte sich eine Schlange gebildet, in
die sich Herr Meier einordnete, immer wieder donnerte die Bahn an ihm vorbei,
die Schienen zitterten, fünf Loren voll mit Menschen und Gekreische, gezogen
von einer Lokomotive. Die „Colorado“ erreicht maximal 50 Kilometer pro Stunde,
was behäbig erscheint in Zeiten, in denen Achterbahnen in der Wüste über 200
Kilometer pro Stunde fahren. Die Gleise der Bahn erstrecken sich über 1280
Meter, die Fahrt dauert zwei Minuten und 55 Sekunden und ermöglicht nach 29
Sekunden den ersten Rausch, indem die Bahn in die vollkommene Dunkelheit eines
Bergwerks hinabschießt. Bereits zu diesem Zeitpunkt hatte Herr Meier an jenem
Sommertag vor einigen Jahren überall im Körper Schmerzen, die bis zum Ende der
Fahrt anhielten.
Die Achterbahn raste weiter, durch die Schwärze und
rundherum um einen Teich, dann fuhr die Bahn ins Starthaus ein. Nachdem der
Bügel Herrn Meier das Aussteigen erlaubt hatte, halfen ihm Jugendliche die
Treppen hinab.
Abends legte sich Herr Meier zu Hause ins Bett und stand
fünf Tage nicht mehr auf. Schließlich rief er einen Arzt, der ihm eine Spritze
gab und meinte, Herr Meier solle zu seinem eigenen Wohlergehen auf das
Achterbahnfahren verzichten. Herr Meier leistete den Vorgaben seines Arztes
Folge, und so war diese Fahrt mit der „Colorado“ an einem Sommertag vor einigen
Jahren die letzte, die er mit einer Achterbahn unternahm.
Dennoch besucht Walter Meier, Sohn eines Eisenbahners und
einer Hausfrau, geboren am 28. Oktober 1928 in der Stadt Schweidnitz in
Schlesien und seit 1955 wohnhaft in der rheinischen Kleinstadt Brühl, jeden Tag
das Phantasialand mit einer Disziplin, die der militärischen ähnlich ist.
Das Phantasialand liegt am Rande Brühls, ist ein
Freizeitpark und, wie üblich für einen ordentlichen Freizeitpark, ausgefüllt
mit Fressbuden, Schaustellern und Fahrgeschäften. Es ist ein absurdes Stück
Land, im Jahr 1967 eröffnet, 28 Hektar groß und getrieben von dem Wunsch, etwas
viel Größeres zu sein, gelegen zwischen Köln und nirgendwo an der Autobahn 553,
ein Stück Land, an dem Mexiko, China und Berlin aneinander grenzen und dessen
Zauber man nur erliegt, wenn man für einen Tag glaubt, dass Mexiko, China und
Berlin aneinandergrenzen.
Für das Phantasialand gibt es zwei Jahreszeiten, den Sommer
und den Winter, und für Herrn Meier auch. Der Winter in Brühl ist selten ein
Winter mit Schnee, sondern einer, in dem der Wind den Regen ins Gesicht
peitscht. Herr Meier findet jedoch keinen Gefallen am Winter, weil das
Phantasialand in dieser Zeit erst um elf Uhr öffnet; folglich hat Herr Meier
zwei Stunden am Morgen, mit denen er nichts anzufangen weiß. Manchmal, wenn ihm
sehr langweilig ist, schaut Herr Meier Fernsehen, aber das ist auch nichts,
weil Herr Meier nichts sieht. Im Sommer öffnet das Phantasialand schon um neun;
Herr Meier mag den Sommer.
Es ist ein Morgen an einem Montag Anfang April, der
Morgenhimmel, der ganz frei von Wolken ist, weist in der Ferne die ersten
Sonnenstrahlen auf, und Herr Meier sitzt am Wohnzimmertisch seiner Wohnung, die
eine von zwei ist in einem grauen Gebäude im Osten Brühls. Aus einem Radio tönt
fröhliche Musik aus den Sechzigern, Herr Meier hat nicht lange geschlafen, weil
er das nie tut. Herr Meier ist nun schon seit geraumer Zeit Rentner, aber er
kann nicht ausschlafen, wer kann das auch schon, wenn er sein ganzes Leben um
halb sechs am Morgen aufgestanden ist und manchmal um fünf.
Die Natur hat Herrn Meier mit Jugendlichkeit bedacht. Das
Alter hat ihn nicht geschrumpft, er ist vielleicht einen Meter achtzig groß und
schlank, seine Haare sind dünn und grau und akkurat nach hinten gekämmt, seine
Augen wach. Herr Meier trägt ein weißes Hemd, schwarze Stiefel und an seinem
linken Handgelenk eine Uhr, deren Lederarmband schlottert und auf der er in
großer Regelmäßigkeit nachsieht, wie spät es ist.
In Alben bewahrt Herr Meier Bilder und Unterschriften der
Darsteller auf. Seine gesammelten Jahreskarten trägt Herr Meier wie einen Schal
um den Hals.
Auf Bildern, die zahlreich die Wände des Wohnzimmers
bedecken, sind herausragende Ereignisse im Leben von Herrn Meier und seiner
Frau Ingeborg festgehalten. Auf fast allen Fotografien bildet das Phantasialand
den Vorder- oder Hintergrund. Herr und Frau Meier vor Fahrgeschäften, in den
Armen von Menschen und Drachen, bei Regen, bei Schnee, bei Sonne, Herr Meier
mit vielen Haaren und mit wenigen und so fort. Auf dem Sofa liegt ein Kissen,
auf dessen Bezug allerhand Tänzer Herrn Meier und seine Frau umrahmen und eine
Decke, auf der das Logo des Phantasialands eingraviert ist. Im Flur hängen
Plakate eines Zauberkünstlers, der jahrelang im Phantasialand zauberte, und
Jahreskarten, siebzehn Stück, wie Perlen an einer Schnur aufgereiht. Auf einer
Fotografie hat Herr Meier diese Jahreskarten um seinen Hals gelegt wie ein
Rapper seine Goldketten.
Im Flur hängen Plakate eines Zauberkünstlers, der jahrelang
im Phantasialand zauberte.
Es ist jetzt acht Uhr, die Röte des Himmels ist einem Blau
gewichen, und Herr Meier sagt, es sei wirklich Zeit zu gehen, er möchte den
Shuttle-Bus nicht verpassen, was ihm noch nie passiert ist. Herr Meier steht
auf und legt eine rote Krawatte um, die bereits fertig gebunden um ein
Stuhlbein geschwungen hing. Er sagt, „Heute setzte ich den großen Hut auf“, und
nimmt einen Cowboyhut, dessen Haut aussieht wie aus Schlangenhaut gemacht.
Innendrin klebt noch das Preisschild, fünf Mark.
„Die Mädchen sagen immer, Mensch Walter, wie schick bist du
heute wieder“, sagt Herr Meier. „Heute trägt ja jeder nur noch
Freizeitklamotten, nicht wahr?“
Vielleicht 500 Meter sind es von seiner Wohnung bis zur
Haltestelle, die Haustür schließt Herr Meier doppelt ab. Der Bus fährt vom
Brühler Bahnhof, um 25 und um 55, Herr Meier nimmt den um 25, 8.25 im Sommer
und 10.25 im Winter. Es ist jetzt Viertel nach acht, und Herr Meier schaut auf
seine Uhr. „Jaja“, sagt er, „manchmal kommt der Bus zu spät.“ Der Bus kommt
pünktlich.
„Guten Morgen, Walter“, sagt der Busfahrer.
„Guten Morgen“, sagt Herr Meier und setzt sich auf den
ersten Platz links vorne.
Herr Meier bereitet sich auf seinen Besuch beim
Phantasialand vor.
Sommers um 8:25 Uhr, winters um 10:25 Uhr: Herr Meier macht
sich auf den Weg.
Die Bushaltestelle ist nicht weit von Herrn Meiers Wohnung
entfernt.
Von der Haltestelle aus fährt ein Shuttlebus direkt zum
Phantasialand.
Herr Meier hat einen Sohn, zwei Enkel und zwei Urenkelinnen,
manchmal kommen sie vorbei, meistens nicht. Er mag seine Urenkelinnen sehr
gerne, und sie mögen ihn, ein Opa, mit dem man immer in den Freizeitpark gehen
kann. Es gibt in der Tat Schlechteres, aber Herr Meier sagt, er und seine
Urenkelinnen hätten kaum Kontakt. „Das ist ja nicht so wichtig“, sagt er. „Ich
bin es ja auch gewohnt jetzt, allein zu sein, und da oben kümmert man sich um
mich.“
„Da oben“ ist das Phantasialand. Herr Meier kann nicht mehr
gut sehen und hören auch nicht mehr, und das ist eine fatale Kombination, denn
sein Hörgerät hat so mickrige Batterien, die schon ein Normalsterblicher kaum
sieht, aber Herr Meier hat die Olga, die im Family-Center des Phantasialands
arbeitet und Herrn Meier die Batterien an seinem Hörgerät wechselt. Herr Meier
ist allein, aber weil er jeden Tag ins Phantasialand geht, ist er allein und
nicht einsam, und das ist schon ein Unterschied.
Mit seiner Dauerkarte kann Herr Meier das Phantasialand
ganzjährig besuchen.
98 Euro kostet die Jahreskarte, die nicht Jahreskarte heißt,
sondern „Erlebnis-Premium-Pass“ für junggebliebene Senioren über 60. Für Herrn
Meier ist es eine Jahreskarte, er kann ja jeden Tag damit ins Phantasialand.
1999 war es, als er sich mit seiner Frau zum ersten Mal eine Dauerkarte für das
Phantasialand kaufte. „Fun-Karte“ hieß die damals, berechtigte jedoch nur zu 40
Mal Eintritt. Herr Meier und seine Frau gingen jedoch jedes Jahr 42 Mal, am
„Tag der Brühler“ und am Geburtstag gab es freien Eintritt hinzu.
An diesem Montag im April ist das Phantasialand, wie üblich
für einen Montag nach einem Wochenende mit Sonnenschein, leer, und die Leere
lässt die chinesische und mexikanische Musik, die aus Lautsprechern kommt,
widerhallen.
Am Eingang hält Herr Meier einen feinen Plausch mit der
Petra und bricht anschließend auf zum „Café Heino“, vorbei an chinesischen
Tempeln, vorbei an Fressbuden, die gebratene chinesische Nudeln feilbieten, und
an solchen, die Tacos verkaufen, vorbei an der „Colorado“-Achterbahn und an
einem Zaun, hinter dem eine neue Achterbahn erbaut wird.
Am Rand trotzen Kinder, deren Eltern den Kauf eines Softeis
verweigern; deswegen machen das rothaarige Mädchen und der blonde Junge
Krawall. Im Großen und Ganzen teilt sich das Publikum des Phantasialands an
diesem Tage in drei Gruppen, als da wären: Eltern mit ihren Kindern;
Jugendliche, die Schuhe mit Nike-Logo tragen, und Senioren, die zu zehnt oder
zwölft durch das Phantasialand laufen und Awo-Aufkleber über dem Herzen tragen.
Das „Café Heino“ liegt in dem Teil des Phantasialands, der
„Berlin“ heißt und eine Nachbildung der Berliner Straße Unter den Linden der
zwanziger Jahre im Maßstab 1:2 ist. Unter den Linden gab es in den zwanziger
Jahren offensichtlich ein Riesenrad, ein Kettenkarussell, osteuropäische
Jungmänner auf Fahrrädern, Fassaden von Konditoreien und das „Café Heino“. Es
muss toll gewesen sein.
Die Sonne strahlt auf das Bekannte, und die Stühle vor dem
„Café Heino“ sind leer, doch Herr Meier tritt durch die schweren Holztüren hinein
ins Innere. Er sagt, dass er sich stets nach drinnen setzte, auch wenn es 25
Grad hat oder noch mehr.
Mit der Souveränität des Stammgastes ignoriert Herr Meier
die über der Theke angeschlagene Karte und ordert ein süßes Frühstück sowie
einen Kaffee. „Das süße Frühstück für Sie nur mit heller Marmelade, richtig?“,
fragt der Kellner, und Herr Meier nickt.
An den Wänden hängen Poster und Schallplatten von Heino,
blond und mit Sonnenbrille, alle aus der Zeit, als der Sänger noch nicht cool
sein wollte und es für viele Deutsche doch irgendwie war. Herr Meier weiß gar
nicht, dass Heino jetzt cool sein will, Herr Meier weiß nur, dass Heino zum
40-jährigen Jubiläum des Phantasialands da war und 45 Minuten gesungen hat und
dass er das „wunderbar“ fand. Herr Meier kramt in seiner Handtasche rum und
holt ein Bild hervor, darauf er und Heino, stark überbelichtet.
Das Frühstück wird auf einem Tablett serviert, setzt sich
zusammen aus einem Croissant, einem erstaunlich weißen Brötchen und zwei
Töpfchen heller Marmelade und kostet vier Euro und 32 Cent. In der rechten
seiner Manteltaschen lagert Herr Meier mehrere Filmdosen, in denen er vier Euro
und 32 Cent gesammelt hat. Nun öffnet er eine und lässt den Inhalt in die Hand
des Kellners prasseln. Es ist zu wenig, Herr Meier hat sich verzählt und muss
noch eine zweite Dose hervorholen. Das stört ihn nicht, sagt er: „Die kennen
mich ja, die wissen, dass ich es manchmal mit den Zahlen nicht so habe.“
Herr Meier ist zufrieden, setzt sich seinen Cowboyhut auf
und sagt, er habe Lust auf eine Runde Kettenkarussell. Auf dem Weg trifft Herr
Meier Manuela, und Manuela sagt „Guten Morgen, Walter“. Als er sich ein
bisschen entfernt hat, sagt Herr Meier, Manuela habe ihm früher immer von ihrem
Liebeskummer berichtet. Ihr Mann sei bei ihren Verwandten gar nicht gut
gelitten.
In der Themenwelt Alt-Berlin befindet sich ein
Kettenkarussel.
Das Kettenkarussell ist ein großartiges Relikt. Herr Meier
muss sich nicht in die Schlange stellen, er darf durch den Ausgang das Rondell
betreten, vor der Fahrt legt er seinen Hut an den Rand. Dann geht es los, immer
im Kreis und im Kreis, bis Berlin vor den Augen verschwimmt. Von unten schießen
Wasserfontänen in die Luft, grade so hoch, dass die letzten Spritzer kurz vor
den Schuhsohlen der Fliegenden wieder hinabfallen. Früher ist Herr Meier mit
seiner Frau im Kettenkarussell gefahren, im Partnersitz oder nebeneinander.
Herr Meier war sehr verliebt in seine Frau, und er sagt, das
sei 60 Jahre so gewesen. Als sowieso schon alles zu Ende war, zog Herr Meier
noch in den Krieg, vielmehr wurde er gezogen, 30000 Jungen seines Jahrgangs
sind im letzten Kriegsjahr gefallen, Herr Meier geriet erst in amerikanische
und anschließend britische Gefangenschaft und wurde anschließend freigelassen. Er
hat ein bisschen auf einem Bauernhof gearbeitet und ist 1947 zu seinen Eltern
in das Dorf Jerxheim im Kreis Helmstedt gezogen.
Es waren schlechte Zeiten, und es wurde viel getanzt. „Da
gab’s ja viel zu wenig Männer, aber die haben sich alle nie getraut zu tanzen“,
sagt Herr Meier. „Ich habe immer getanzt, bestimmt mit 20 oder 25 Mädchen.“ Zu
den Tanzbällen kamen auch die Mädchen aus den Nachbarorten, zu diesen Mädchen
gehörte Ingeborg, in Ingeborg hat sich Herr Meier dann gewaltig verliebt und
sie sich zu seinem Glück auch in ihn. Bald haben Ingeborg und Herr Meier
geheiratet, und 1955 sind sie nach Brühl gezogen, weil Herr Meier da eben hin
musste.
Ingeborg und Herr Meier haben sich nie gestritten und waren
sehr glücklich, nur einmal hatten sie fast Streit. Da hatte ihr Sohn es schwer,
Arbeit zu finden, und Ingeborg meinte, da würde ein Führerschein sicher helfen,
Herr Meier fand das auch, fand aber auch, dass dann gleich alle drei, also der
Sohn, Ingeborg und Herr Meier, einen Führerschein machen sollten. Ingeborg
missfiel diese Idee, es war ihr schlichtweg peinlich, aber dann hat sie doch
zugestimmt, und so haben Herr Meier und seine Frau mit 55 den Führerschein
gemacht und im ersten Versuch bestanden.
Mit 55 erst, als Herr Meier Eisenbahner war. Am Anfang baute
er Gleise wie Chinesen im Wilden Westen, schwere körperliche Arbeit war das,
später dann war er im Büro. Als Eisenbahner bekam er Fahrscheine geschenkt oder
günstiger, und das haben Herr und Frau Meier genutzt, um in der Welt
herumzuschauen.
Herr Meier hat sich gemerkt, wo sie waren, und zwar in
Jugoslawien, zweimal auf dem Nil, dreimal in Tunesien, zweimal in Istanbul,
zweimal in St. Petersburg, dreimal in Paris für 40 Mark, dreimal in Ungarn,
achtmal in Tschechien und sechzehn Mal in Schlesien. Als es Herrn und Frau
Meier genug war mit den Reisen, 1999 war das, sind sie ins Phantasialand
gegangen, da hatten sie auch ein bisschen große Welt, mussten dafür aber nicht
immer so weit fahren.
Im August 2008 ist Ingeborg gestorben, kurz vorher hat sie
zu Herrn Meier gesagt: „Danke für alles.“ Herr Meier findet, dass es einen
besseren Abschied nicht geben könne.
Das Phantasialand ist nicht mehr das, was es 1999 war, wie kaum
mehr das ist, was es 1999 noch war. Die Betreiber haben das Brandenburger Tor
abgerissen, den Märchenwald, das Schloss Schreckenstein und die Gondelbahn 1001
Nacht. Den Orient haben sie 2009 geschlossen und den Wilden Westen 2014, Hawaii
schon 1992. Nun gibt es einen Themenbereich mit dem Namen „Deep in Africa“.
Etwa 1,8 Millionen Besucher kommen im Jahr, von denen zumindest die Erwachsenen
45 Euro Eintritt bezahlen.
Walter Meier sagt, dass „es halt so ist, wie es ist“, die
Besitzer müssten ja auch Geld verdienen, und für Gondelbahnen und Märchenwälder
käme eben keiner mehr, schade fände er das aber schon.
Nun ist es Zeit für eine Show. Die erste findet im
Wintergarten des Phantasialands statt, vor dem schon um kurz nach halb zwölf
die Leute in Trauben warten. Es ist festzustellen, dass die Show eindeutig die
älteren Besucher lockt. Für Herrn Meier sind die Shows der tägliche Höhepunkt,
dafür kommt er eigentlich her und schaut sich jeden Tag mindestens zwei an. Um
viertel vor zwölf öffnen zwei Männer in Sicherheitsuniformen die Flügeltüren
aus dunklem Holz; gleich werden sie vom Trapez hängen, die Männer sind
anscheinend zu vielem in der Lage.
Herr Meier steht als Erster vor der Tür.
„Guten Mittag, Walter“, sagt der eine der
Sicherheitsartisten. „Warte noch einen Moment, wir müssen noch den Teppich
ausrollen.“
Herr Meier nickt; als der Teppich ausgerollt ist, geht er
zielstrebig hinein, setzt sich auf den mittleren Platz in der ersten Reihe und
holt sein Fernglas raus, weil er ja so schlecht sieht. Der Saal ist
abgedunkelt, als die Musik laut und tief einsetzt und die Beleuchtung einen
runden Kreis auf die Bühne malt. Artisten springen auf die Bühne und machen
neben beeindruckenden Vorstellungen ihrer Körperbeherrschung allerlei Unsinn.
Das Schauspiel ist für die Menschen, die vereinzelt auf der Tribüne sitzen und
vereinzelt flüstern, nicht sonderlich aufregend. Doch in diesen Minuten
geschieht es nun, dass sich was ändert bei Herrn Meier, der ja vorher
keinesfalls unglücklich war, aber jetzt strahlen seine Augen, dass es ein Fest
ist. Dumpf und laut unterlegt der Bass den Boden des Saals, hin und wieder stockt
dem Publikum der Atem, wenn sich ein Artist wagemutig von den Ringen oder
Trapezen fallen lässt.
Herr Meier kennt sie alle, weiß, wo sie herkommen, was sie
können und was nicht. Bei manchen war er auf Geburtstags- oder
Weihnachtsfeiern. Herr Meier hat eine gewaltige Trillerpfeife mit, und wenn
alle anderen klatschen, pfeift Herr Meier, dann wissen die Artisten auch, dass
er da ist. „Das ist schon toll, was die können“, sagt Herr Meier. Er ist ja
selber ein Tänzer, früher und heute auch wieder, jeden Montagabend geht er
jetzt immer in die Volkshochschule zum Tanzkurs. „Da muss man sich noch mal
zusammenreißen, die erwarten was von einem.“
Die Show dauert eine halbe Stunde, läuft schon seit zwei
Jahren, und die Künstler machen jeden Tag das Gleiche, außer, jemand macht mal
was falsch, was Herrn Meier sofort auffällt. Zum Schluss verbeugen sich die
Artisten, dann setzen sie sich vorne auf die Kante der Bühne, unterhalten sich
ein bisschen mit dem Publikum und natürlich mit Herrn Meier, der sich
anschließend auf den Weg macht zur nächsten Show. Wenn alle Shows vorüber sind,
nimmt Herr Meier um viertel vor vier den Shuttle-Bus und fährt nach Hause.
Manchmal hat Herr Meier einen Arzttermin, dann kommt er
nicht ins Phantasialand oder später. Er sagt, dass er sich dann am Tag vorher
immer bei den Mitarbeitern des Phantasialands abmelde. Es soll sich ja keiner
Sorgen machen.
Liebe im Alter
"Kommt da
noch was?"
Das fragen sich viele Singles über 60. Aber ja! – Wie
Ältere die Liebe erleben. Von Julia Friedrichs
Schon die Adjektive, mit denen wir eine neue Liebe
beschreiben, machen klar, in welcher Lebensphase wir diese verorten:
Wir nennen solch eine Liebe "frisch" und
"zart" und "knospend" oder einfach "jung". Nun
sind aber immer weniger Menschen in diesem Land frisch und knospend und jung.
Die Hälfte der Deutschen ist über 45.
Und so sollte, wer im 21. Jahrhundert von der Liebe
erzählt, nicht nur die Geschichten der ersten Verliebtheit erzählen, sondern
auch die der letzten. Was also macht das Alter mit der Liebe? Wie findet man
sich mit Mitte 50? Schlägt die Liebe mit über 60 noch immer ein, oder schleicht
sie sich vorsichtig an? Wie gelingt es mit fast 70, zwei gelebte Leben zu einem
neuen Ganzen zusammenzufügen? Ist es einfacher, wenn zwei Menschen sich im
Alter verlieben, weil beide schon wissen, wer sie sind und was sie wollen? Oder
komplizierter, weil das Leben Narben hinterlassen hat? Und nicht zuletzt: Was
läuft im Bett? Ist die Liebe im Alter erotisch oder eher platonisch? Ergebnisse
einer Erkundung.
Verlieben
Is this
desire, enough, enough
To lift
us higher, to lift above? (PJ Harvey)
Man kann es sich kaum vorstellen: Aber eigentlich war
Ruth Schlorke durch mit der Liebe – diese schlanke Frau mit halblangem grauem
Haar, die immer noch Tanzklassen unterrichtet. Sie war Mitte 50 und hatte zwei
Beziehungen hinter sich – die zweite, weil der Tod ihr den Mann nahm, die
erste, ihre Ehe, aus freien Stücken: Ihr Mann und sie hatten drei Kinder
gemeinsam großgezogen, die Liebe aber hatten sie auf dem Weg verloren. Es war
über Jahre eine platonische Beziehung, sagt Schlorke, "wir haben versucht,
den Kontakt auf das Notwendigste im Alltag zu beschränken". Am Tag, als
das jüngste Kind 18 wurde, sagte Ruth Schlorke: Ich will gehen. Drei Monate
später hatten sie ihre Wohnung aufgelöst und die Ehe auch formal beendet. Ruth
Schlorke verliebte sich wenig später in einen älteren Mann, der wie sie in der
Jugendarbeit tätig war. Nach fünf gemeinsamen Jahren starb er. "Ich habe
mich in die Arbeit gestürzt", sagt sie. "Alle Gefühle wie ein
Maulwurf vergraben." Sie wurde älter. Und plötzlich tauchte da eine Frage
auf: War es das für dich mit der Liebe? Auf ewig?
Es ist die Schlüsselfrage, die sich auch den drei anderen
stellte, die sich bereit erklärten, in langen Gesprächen ohne Scheu, allerdings
unter geändertem Namen, zu berichten, wie es ist, sich in der zweiten Hälfte
des Lebens zu verlieben:
Paula Krahe, Ärztin in Hamburg, war Mitte 50, als ihr
Mann, wie sie sagt, "vom Hof ritt".
Peter Petzold, geschieden, zwei Kinder, war Mitte 60, als
er nach einem langen Auslandsaufenthalt in Asien frisch pensioniert nach
Deutschland zurückkehrte und allein eine Altbauwohnung in Berlin bezog.
Hilde Herrmann beerdigte ihren Mann nach 46 gemeinsamen
Jahren. Sie war 69, als er starb, und auch sie fragte sich: Kommt da noch was?
Dass alle vier diese Frage heute mit Ja beantworten, ist
kein Zufall. Es scheint so, als mache sich die sexuelle Befreiung gerade auf
die letzten Meter des Weges. Sie ist stiller geworden mit den Jahren, logisch,
aber deshalb nicht weniger wirkungsvoll. Glaubt man Statistiken und Soziologen,
glaubt man Paarforschern und Ärzten, ändert sich gerade etwas fundamental: Die
Alten entdecken die Liebe. Vor allem für die Frauen bedeutet das, dass sie auch
jenseits der Wechseljahre eine andere Rolle annehmen können als jene, auf die
sie seit je reduziert wurden: die der Oma – eines asexuellen Wesens, dessen
Zuneigung sich auf Kinder und Enkel zu beschränken hatte.
Nach Angaben des Zentrums für Altersforschung gibt es bei
den über 60-Jährigen so viele Partnerschaften wie nie zuvor. Laut Statistischem
Bundesamt wurden im Jahr 2014 100.000 Ehen geschlossen, bei denen ein Partner
über 50 war – zwei Drittel mehr als noch im Jahr 2000. Und als die Universität
Osnabrück Menschen zwischen 50 und 70 zu ihrem Sexualleben befragte, gaben 60
Prozent der Frauen und 80 Prozent der Männer an, regelmäßig Geschlechtsverkehr
zu haben.
Ganz selbstverständlich stolzieren frisch verliebte Seniorenpärchen
über rote Teppiche: egal ob Daimler-Chef Dieter Zetsche, 63, mit gleichaltriger
Freundin oder Jane Fonda, 78, mit ihrem fünf Jahre jüngeren Freund. Im
vergangenen Oktober konnte man in der Londoner Times folgende Verlobungsanzeige
lesen: "Mr. Rupert Murdoch, Vater von Prudence, Elisabeth, Lachlan, James,
Grace und Chloe Murdoch, und Miss Jerry Hall, Mutter von Elizabeth, James,
Georgia und Gabriel Jagger, sind hocherfreut, ihre Verlobung bekannt zu
geben." Gerade haben das Ex-Model (59) und der Multimillionär (84)
geheiratet.
Auch Hollywood hat erkannt, dass die klassische
Boy-meets-Girl-Geschichte im 21. Jahrhundert mit anderem Personal erzählt
werden muss. Schaut man sich die erfolgreichsten romantischen Komödien seit
1998 an, erkennt man einen Trend: Bis zum Jahr 2008 gab es kaum Liebesfilme mit
Hauptdarstellerinnen über 40. Ab da aber feierten Romanzen mit älteren
Heldinnen Erfolge in Reihe: Sex and the City – Der Film mit Sarah Jessica
Parker, Anfang 40; Julianne Moore in Crazy, Stupid, Love, Anfang 50; und –
immer wieder – Meryl Streep, gerade 60 in Wenn Liebe so einfach wäre oder, zwei
Jahre zuvor, in Mamma Mia!. Da spielt sie die alleinerziehende Hotelbesitzerin
Donna, die sich lange nur um Arbeit und Tochter gekümmert hat, bevor sie, alte Abba-Songs
singend, die Liebe wieder zulässt.
Aber auch wenn die Gesellschaft die Seniorenliebe
akzeptiert, auch wenn Promis sie zelebrieren, Hollywood sie erzählt, trennen
Ältere etliche Hürden von einer neuen Liebe. Die banalste erhebt sich gleich zu
Beginn: Wo lerne ich überhaupt noch jemanden kennen, in den ich mich verlieben
könnte – in einer Lebensphase, in der man nicht mehr ständig neue Menschen
trifft?
Drei unterschiedliche Antworten haben die Paare darauf.
Die eine könnte man die klassische Variante nennen, die ältere Singles schon
immer nutzen: Man verliebt sich in der zweiten Hälfte des Lebens nicht in
jemanden, den man neu kennenlernt, sondern in jemanden, der schon immer da war.
Man weist einer vertrauten Person also eine neue Rolle im Leben zu. Vielleicht
weil man damit auch die Erinnerung an das eigene Jungsein bewahrt.
Paula Krahe ist Ärztin, noch immer berufstätig. Sie lebt
in einem herrschaftlichen Altbau in Hamburg. Eine passende Kulisse. Krahe ist
70, wirkt aber jünger: aufrechte Haltung, perfektes Make-up, das graue Haar in
gerader Linie kinnlang. Noch heute staunt sie selber darüber, wie das damals
mit Rainer lief. Sie kannten sich schon lange, arbeiteten beide ehrenamtlich in
einem Verein, der Einsätze von Ärzten in Armutsgebieten organisiert. Sie fanden
sich nett, aber mehr war da nicht. Dann aber verließ Krahes erster Mann sie und
Rainers erste Frau ihn. "Ich weiß noch, dass ich mit ihm allein im
Fahrstuhl fuhr, wie schon viele Male zuvor, und plötzlich, ich weiß bis heute
nicht, wie das passieren kann, fand ich ihn attraktiv, toll, eine ganz solide
Verliebtheit war da. Wie ein umgelegter Schalter war das." Es ist ein
Muster, das man kennt: der alte Wegbegleiter, der auf einmal zur neuen Liebe
wird. Manchmal aus der Vernunft geboren, manchmal aus dem Zauber eines Moments.
Zweite Antwort: Wenn man im Bekanntenkreis niemanden
fand, gab es natürlich auch früher schon Flirtoptionen für Ältere. Die
klischeehaften drei Ks zum Beispiel: Kaffeefahrten, Kegeltouren und
Kuraufenthalte. Möglichkeiten zwar, aber doch begrenzt.
Das hat sich geändert: Seit einiger Zeit haben sich diese
Möglichkeiten erweitert. Seit Beginn der 2010er Jahre hat das Internet Umfragen
zufolge in der Altersgruppe der über 50-jährigen Singles alle anderen
Kennenlernschauplätze überholt. Fast 60 Prozent der Älteren suchen online nach
einer neuen Liebe. Während das Überangebot potenzieller Partner viele Jüngere
eher zu unentschlossenen Dauer-Datern werden lässt (s. Der Nächste bitte,
ZEITmagazin 29/16), freuen sich viele Ältere, durch die Liebesportale überhaupt
so etwas wie eine Auswahl zu haben.
An dem Abend, als Ruth Schlorke sich für diese Option
entschied, war sie mit ihrer Schwester im Kino gewesen, in: Mamma Mia! mit
Meryl Streep. "Wir sind tränenüberströmt da rausgegangen", sagt
Schlorke. Gegen Mitternacht waren sie wieder zu Hause. Die Schwester hatte eine
Flasche Champagner mitgebracht und sagte: "Liebe Ruth, so geht es nicht
weiter! Du bist zu jung. Du solltest es noch einmal versuchen." In dieser
Nacht erstellten die beiden ein Profil bei einer Online-Partnerbörse. Die
Schwester zahlte die Jahresgebühr von gut 300 Euro. "Für mich öffnete sich
damit eine Tür", sagt Ruth Schlorke. Im echten Leben noch mal jemanden
kennenzulernen traute sich die damals 55-Jährige nicht zu. Das Internet schien
ihr die letzte Chance zu sein. "Was folgte, war erst mal
Ernüchterung", sagt Schlorke.
Kaum war sie angemeldet, schrieb sie zwei Männer an, die
wie sie in Leipzig lebten. Sie traf den ersten, "überraschend klein"
war er, sagt sie, aber fit und aktiv. Sie wanderten, redeten, begannen zaghaft,
sich kennenzulernen. Sie traf den zweiten zum Abendessen, zurückhaltend war er,
sprach stockend über die Kinder, was immerhin ein gemeinsames Thema war. Beide
Male hatte Ruth Schlorke das Gefühl, sie fingen gerade an, sich näherzukommen.
"Aber dann obsiegte schon bei beiden die Männlichkeit." Was heißt
das? "Sie wurden zudringlich, wollten ihre Bedürfnisse befriedigt
sehen", sagt sie. "Es ging ihnen um Sex. Das wollte ich so nicht, und
da habe ich gedacht: Tolle Idee, die Online-Suche, aber es läuft ja doch nur
auf das eine hinaus." Als sie gerade dabei war, ihr Profil auf Eis zu
legen, schrieb ihr Dieter Bringmann aus Hof, geschieden, ein Kind, sportlich,
schlank. Sie blaffte ihn an: Er sei wohl noch so einer, der nur ihr Profil
scanne. Er schrieb: Wie kommst du denn darauf? Ich will dich kennenlernen.
"Ich sah das Bild und dachte: Das kann doch nicht wahr sein", sagt
Ruth Schlorke. "So ein attraktiver Mann!" Sie schrieben sich hin und
her, erst online, dann per SMS, teilweise im Minutentakt. "Ich finde es so
schön, wie wir uns unterhalten", stand in einer SMS. "Ich auch",
antwortete sie. So ging es über Tage. "Ich konnte kaum fassen, was da in
mir abging", sagt Schlorke. "Es war nicht, wie als junges Mädchen
verliebt zu sein, es war anders – schlimmer, aufregender, schöner." Als er
nach einem Bild von ihr fragte, zögerte sie lange, wählte dann ihr
Lieblingsfoto. Er reagierte nicht sofort. Sie litt Qualen. Gefalle ich ihm
nicht? Dann die Erleichterung: "Doch, sehr", schrieb er.
"Unser Erstkontakt war am 27. Februar, so steht es
auch in dem Armband, das ich ihm geschenkt habe", sagt sie. "Drei
Wochen später hielten wir es beide nicht mehr aus." Dieter Bringmann und
Ruth Schlorke, er Vater einer erwachsenen Tochter, sie längst Oma, verabredeten
sich zu einem ersten Date.
Eigentlich war Ruth Schlorke durch mit der Liebe, als sie
Mitte 50 war und Single wurde. Dann stieß sie in einem Onlineportal auf Dieter
Bringmann.
Eigentlich war Ruth Schlorke durch mit der Liebe, als sie
Mitte 50 war und Single wurde. Dann stieß sie in einem Onlineportal auf Dieter
Bringmann. © Fergus Padel
So ähnlich war es auch bei Hilde Herrmann. Sie empfängt
in einer kleinen Wohnung in einem Betonhochhaus in Frankfurt am Main. Seit vier
Jahrzehnten lebt sie hier. Dort, wo heute das Arbeitszimmer ist, hat sie ihren
Mann gepflegt, der lange krank war und vor vier Jahren starb. Hilde Herrmann
hat für das heutige Gespräch ein paar Mohnteilchen gekauft, den Tisch mit
sorgfältig gefalteten Servietten gedeckt. Sie ist eine aufmerksame Gastgeberin.
Und sie hat sich zurechtgemacht. Sie trägt ein schwarzes seidiges Kleid,
hochhackige Leopardenschuhe, das halblange Haar blondiert. "So sehe ich
zumindest aus der Ferne noch attraktiv aus", sagt sie kokett. Als sie mit
69 Witwe wurde, sei sie noch eine ganz andere Frau gewesen, sagt sie.
Verunsichert und unerfahren, ihr Ehemann sei bis dahin ihr einziger Mann
gewesen. "Es war meine Tochter, die mich dann sehr gedrängt hat, noch mal
nach einem Partner zu suchen: Mama, du musst noch mal auf die Piste
gehen!" Hilde Herrmann zögerte. Da war die Scheu, die Sorge, wie das sein
würde mit den Männern. Da war aber auch eine ganz große Lust, Neues zu erleben.
Auch im Bett. "Ich bin in einem katholischen Internat groß geworden",
sagt sie. "Das hat mich geprägt, und weder mein Mann noch ich haben diese
Hemmung abstreifen können. Das habe ich bedauert. Ich war also richtig
neugierig auf Sex, weil ich in der Ehe zu wenig erlebt hatte." Das
Internet half ihr gleich doppelt, sagt sie. Zum einen, an dieser Stelle lacht
sie sehr, hat sie sich online "Sexfilmchen" angeschaut, um sich
schlau zu machen, wie es heute so zugeht zwischen Mann und Frau. Zum anderen
hat sie sich bei Online-Partnerbörsen angemeldet. Bei einer, spezialisiert auf
Senioren, konnte man nicht nur chatten, sondern auch Ausflüge buchen zum
Tanzen, aufs Land. "Dort waren aber hauptsächlich Frauen", sagt sie.
Also stellte sie bei einer anderen Börse ihr Profil online. Zwei der Männer
traf sie, "man kam sich kurz näher". Aber sie war noch zu unsicher,
um sich ganz auf einen der Herren einzulassen. Und dann, gut zwei Jahre war ihr
Mann tot, meldete sich Werner, wie sie Anfang 70, Ingenieur aus dem Westerwald,
ein stiller Mann, der aber "fantastisch schreiben kann. Wie Nora Roberts,
diese Schriftstellerin", sagt Hilde Herrmann. "Unglaublich
eigentlich." Werner schrieb ihr: "Ich habe Dich lieb." Hilde
verstand das nicht. So schnell?, dachte sie. Kann das sein? Sie sagte trotzdem
zu, als er sie in ein Frankfurter Restaurant einlud. "Und da hat er mich
beeindruckt", erinnert sie sich. Wie denn? Sein Auto parkte direkt vor dem
Restaurant auf einem Stellplatz, für den horrende Parkgebühren anfielen. Aber
statt das Essen mit ihr abzukürzen, sei Werner alle 20 Minuten zu der Parkuhr
gelaufen, um Geld nachzuwerfen. Das empfand Hilde Herrmann als großes Zeichen
seiner Zuneigung. "Ich glaube, es ist im Alter nicht so einfach, sich
richtig zu verlieben", sagt sie. "Mit ›Wow!‹ und Herzklopfen. Bei mir
war da kein ›Wow!‹. Meine Liebe zu ihm wächst langsam, dadurch, wie er sich
verhält." Seit gut einem Jahr sind Werner und Hilde jetzt ein Paar.
Während des Interviews piepst ständig ihr Handy. Täglich schicken sie sich
Dutzende WhatsApp-Nachrichten hin und her. Garniert mit Reihen von Emojis:
Smileys, Herzchen, Kussmündern. Der ganz normale Love-Chat zweier 73-Jähriger.
Umwidmen einer alten Bekanntschaft oder sich durch das
Online-Angebot stöbern – das sind zwei Pfade zur Liebe im Alter. Der dritte ist
vor allem für Männer am einfachsten. Peter Petzold ist vor vier Jahren in diese
Straße in guter Westberliner Lage gezogen. Auf dem Weg zu ihm fällt auf: Hier
gibt es sehr viele alte Damen. Eine huscht durchs Treppenhaus, hat ihn gerade
noch besucht. Peter Petzold ist 69, graues Haar, groß, ein wenig gebückt,
adrett in Hemd und Stoffhose, seine Wohnung penibel sauber, im Flur eine
imposante Sammlung von DVDs mit Opernaufnahmen. "Es ist für mich keine
Schwierigkeit, Frauen kennenzulernen", sagt er. Egal, ob er nach
Freundschaften sucht, nach Liebschaften oder nach Lebensbegleiterinnen: Seine
Auswahl, gibt er zu verstehen, sei groß. Er sagt das nicht, weil er protzen
will, er beschreibt eine schlichte Tatsache: Ein Mann wie Peter Petzold, fast
70, immer noch attraktiv, abgesichert, kulturell interessiert, gehört zu den
Gewinnern auf dem Dating-Markt der Älteren. Zum einen sind Männer seiner
Generation knapp. Sie sterben früher als Frauen. Zum Zweiten gilt noch immer
ein Prinzip, das Soziologen double standard of aging nennen. Die Geschlechter
erleben das Altern ganz unterschiedlich.
In dem Film Was das Herz begehrt spielt Jack Nicholson
den Anfang 60-jährigen Harry, beruflich erfolgreicher Dauerjunggeselle, der
gerade die nächste in einer langen Reihe von 30-Jährigen datet. Deren Mutter
Erica, gespielt von Diane Keaton, ist genauso alt wie er, als Theaterautorin
beruflich genauso erfolgreich – aber allein. Bei einem gemeinsamen Dinner wütet
Ericas Schwester, feministische Professorin an der Columbia University: Weil
Männer wie Harry noch immer auf der Jagd nach 30-Jährigen seien, hätten Frauen
wie Erica ein Problem. "Die ganze Dating-Szene der über 50-Jährigen
blendet ältere Frauen aus." Die stürzten sich in die Arbeit, würden
erfolgreicher und interessanter. Das aber, so die Feministin, mache sie für Männer
in ihrem Alter noch weniger begehrenswert. Denn die, das sei ja bekannt,
fühlten sich von erfolgreichen Frauen bedroht. Ihr frustriertes Fazit:
"Alleinstehende ältere Frauen haben demografisch die Arschkarte
gezogen."
Am Ende des Films verliebt sich Harry natürlich trotzdem
in Erica. Für ein Happy End vergisst Hollywood jede Wahrscheinlichkeit. Aber
treffen diese Mann-Frau-Schemata im 21. Jahrhundert überhaupt noch zu? Es
werden schließlich seit einigen Jahren viele gegenteilige Geschichten von
älteren, erfolgreichen Frauen erzählt, die sich junge Männer nehmen. Egal ob
Demi Moore oder Madonna, egal ob in Deutschland Elke Heidenreich, Nena oder Ina
Müller: Sie alle waren oder sind mit wesentlich jüngeren Männern zusammen. Aber
das ist kein Massenphänomen. Laut aktueller Hochzeitsstatistik der Standesämter
heirateten 2014 120.000 Männer eine Frau, die mindestens fünf Jahre jünger war.
Aber nur 20.000 Frauen waren mindestens fünf Jahre älter als ihr Bräutigam.
Blickt man nur auf die Gruppe der 55-jährigen Männer, sind die Zahlen noch
deutlicher: 4.500 heirateten eine wesentlich Jüngere, nur 200 eine Ältere. Aber
genug der Statistik. Zeit für große Gefühle.
Lieben
"O glücklich, wer ein Herz gefunden,
Das nur in Liebe denkt und sinnt
U nd mit der Liebe treu verbunden
Sein schönres Leben erst beginnt!"
(Hoffmann von Fallersleben)
Die Liebe mag im Alter schwerer zu finden sein. Sie mag
manchmal langsamer wachsen. Wenn sie aber da ist, so erzählen alle Paare, wird
sie gehegt und gepflegt wie in kaum einer Lebensphase zuvor.
Ruth Schlorke, die Leipzigerin, deren letzter Versuch ein
Treffer war, saß nach dreiwöchigem Online-Flirt auf dem Fenstersims und wartete
auf das Auto, in dem Dieter endlich vorfahren sollte. Als sie es sah, sprang
sie auf und rannte die Treppen hinab. "Wir standen uns eine
Tausendstelsekunde gegenüber. Dann lagen wir uns in den Armen, und alles hat
gestimmt. In dem Moment waren wir ganz für uns allein." Sie schaut ihn an.
So oft haben sie sich das schon erzählt. Trotzdem haben sie beide wieder
feuchte Augen. Was folgte, war pures Glück: Sie redeten ungezählte Stunden. Sie
gingen aus, Sushi, Prosecco, Sauna, Museum. Sie besuchten sich abwechselnd,
versuchten jedes Wochenende wie ein Fest zu planen. "Man hat aus den
Erfahrungen, die man im Leben gemacht hat, gelernt", sagt Ruth Schlorke.
"Man nimmt bewusster wahr, dass einem da etwas Großes, etwas Schönes
passiert, und man ist bereit, sich ganz und gar darauf einzulassen. Man hält
eine Liebe ganz anders fest, wenn man älter ist."
"Wir haben viel mehr Zeit füreinander", sagt
die Hamburger Ärztin Paula Krahe. Ihre erste Ehe habe es wesentlich schwerer
gehabt, unter enormem Druck gestanden: der Job mit langen Arbeitszeiten, die
Kinder, das ständige Bestreben, noch mehr ins ohnehin schon volle Leben zu
packen. "Da war ich immer am Anschlag", sagt sie. Heute sei sie
netter, entspannter und auch dankbarer. "Mit meiner ersten Ehe bin ich
viel unbedachter umgegangen", sagt Krahe. Mit Mitte 20 denkt man
schließlich, man habe einen Anspruch auf die Liebe. Die zweite Liebe dagegen
ist nicht selbstverständlich, eher ein Zusatzgeschenk. "Anders als bei
meinem ersten Mann habe ich jetzt das Bewusstsein, dass die Zeit mit ihm
begrenzt ist", sagt Krahe. Ihnen blieben vielleicht noch fünf gute Jahre.
"Wenn wir etwas Falsches sagen, reißen wir uns schlagartig zusammen, weil
wir die Zeit bewahren wollen. Ich möchte ihn nicht verletzen, ich bin
aufmerksamer mit dieser Liebe."
"Manchmal denke ich, die Liebe im Alter gleicht der
von zwei Teenagern", sagt Peter Petzold, der Single in bester Berliner
Lage. Unschuldiger, reiner, vielleicht auch ehrlicher. Wenn er sich heute
verliebt, checkt er die Frau nicht mehr ab wie als junger Erwachsener:
Verspricht sie Status? Bringt sie mich nach vorne? Wird sie die sein, mit der
ich eine Familie gründe? Das alles interessiere ihn nicht mehr. "Heute
lerne ich jemanden kennen, mit dem es wunderbar ist, Zeit zu verbringen. Ich
freue mich, gemocht zu werden und das zurückgeben zu können. Ich bin viel
zärtlicher in kleinen Gesten. Ich gehe mehr auf die Frau ein. Ich bin
konzentrierter, nicht abgelenkt. Ich habe keine Termine mehr, muss nicht
dringend irgendwohin." Er wisse nicht, ob diese Jahre die besten seines
Lebens seien, sagt er, aber mit Sicherheit die sorglosesten.
"Wir leben da in einer wundervollen Zeit", sagt
Ruth Schlorke, dankbar für ihren Dieter, den sie im Internet fand. "Auch
in den Familien hat sich viel verändert, viel mehr Offenheit, viel mehr
Toleranz."
Ein Mann wie der 69-jährige Peter Petzold gehört zu den
Gewinnern auf dem Dating-Markt der Älteren, für ihn ist es nicht schwer, Frauen
kennenzulernen.
Ein Mann wie der 69-jährige Peter Petzold gehört zu den
Gewinnern auf dem Dating-Markt der Älteren, für ihn ist es nicht schwer, Frauen
kennenzulernen. © Fergus Padel
Eine Freundin, Ende 30, erzählt, dass ihre Oma ihren
langjährigen Liebhaber der Familie noch verschämt als "Klempner"
vorgestellt habe. Und auch heute erzählen manche verliebte Ältere ihren Kindern
nicht vom neuen Glück, auch heute reagieren manche Jüngere noch empört:
"Mami, in deinem Alter!" Aber der Normalfall ist das längst nicht
mehr. Die Generationen sind so offen und vertraut miteinander wie nie zuvor.
Als Ruth Schlorke ihren drei Kindern sagte, dass sie verliebt sei, freuten die
sich. Dieters Tochter war die ganze Zeit auf dem Laufenden, was Papas
Online-Flirts anging. Und Werner, der Ingenieur, scherzte beim vergangenen
Weihnachtsfest mit Hilde Herrmanns Tochter: "Na, muss ich jetzt um die
Hand deiner Mutter anhalten?"
Und noch etwas scheint sich verändert zu haben: So
vielfältig wie die Beziehungen der Jungen sind inzwischen auch die der Älteren.
Peter Petzold sucht Gefährtinnen, Liebschaften, keine neue Ehefrau. Er genießt
es, allein zu leben, Herr über seinen Tagesablauf zu sein. "Ich suche
niemanden für eine gemeinsame Lebensplanung", sagt er. Die einzige Frau,
die vielleicht eines Tages noch mal bei ihm einziehen werde, sei eine
Pflegekraft. "Einen Möbelwagen werde ich einer Geliebten zuliebe nie mehr
beladen."
Ruth Schlorke und Dieter sind nach einem Jahr
zusammengezogen. Er hat seine Wohnung in Hof aufgegeben, sie die ihre.
Gemeinsam haben sie sich in den Plattenbauten von Leipzig-Grünau, die schon der
Schauplatz von Schlorkes Ehe waren, ein neues Zuhause gemietet. Viele ihrer
alten Möbel haben sie verkauft, um sich gemeinsam Neues anschaffen zu können.
"Wir waren da ein bisschen so, wie die Jugend heute ist", sagt
Schlorke, "spontan und unkompliziert. Wir saßen in der leeren Wohnung auf
dem Boden mit nicht mehr als der Kaffeemaschine und haben unseren Kaffee
getrunken und das Leben genossen."
Hilde Herrmann, die Frankfurter Witwe, die so vieles noch
erleben will, und ihr Werner werden nicht improvisieren. Auf dem
Wohnzimmertisch breitet sie die Pläne des Hauses aus, das Werner für sie beide
gekauft hat. Er hat schon alles eingezeichnet: Hildes Zimmer mit Klappbett, den
Platz für die Sofagarnitur, die heute noch in der kleinen Frankfurter Wohnung
steht, die Maße der Luxusküche, die er ihr bestellt hat. Hilde Herrmann freut
sich darauf, mit ihrem Freund zusammenzuziehen, aber gleichzeitig hat sie auch
Sorge. Wie werden sie den Alltag leben? "Ich bin es von früher gewohnt,
dass sich die Frau dem Mann unterordnet", sagt sie. "Das möchte ich
aber nicht noch mal." Erwartet er, dass sie den Haushalt führt? Putzt und
kocht? Es falle ihr schwer, diese Fragen so offen anzusprechen, wie es Jüngere
tun, sagt sie. "Aber dann bin ich mir wieder sicher, dass es klappt, weil
wir beide sehr liebevoll miteinander umgehen, uns sehr um den anderen bemühen,
und ich finde, das ist doch die wichtigste Voraussetzung."
Und Paula Krahe, die stilbewusste Ärztin, hat vor drei
Jahren, da war sie 67, Rainer geheiratet. 39 Jahre nach dem ersten Mal bezeugte
sie auch ihre zweite große Liebe vor einem Standesbeamten. Sie wählte dasselbe
Datum wie für ihre erste Hochzeit, "da komme ich nicht durcheinander",
sagt sie. Es war eine Vernunftehe im Angesicht der Endlichkeit des eigenen
Lebens, das "Prinzip aufgeräumter Schreibtisch", wie sie es
beschreibt. Krahe, die schwer an Krebs erkrankt war, wollte Rainer im Falle
ihres Todes abgesichert wissen, wollte, dass seine rechtliche Stellung in ihrem
Leben mit der faktischen übereinstimmt. Diesmal soll es eine Ehe auf ewig sein.
Paula Krahe schaut Rainer an, der sich im Laufe des Gesprächs mit an den Tisch
gesetzt hat, ein schlanker Mann, acht Jahre jünger als sie. "Wenn du nicht
gehst, halte ich durch bis zum Ende", sagt sie.
Mit diesen Worten könnte der Text enden. Vermutlich
hatten Senioren nie bessere Chancen auf Liebesglück im Alter. Nie lebten die
Menschen so lange bei so guter Gesundheit. Nie waren die Älteren so reich an
Zeit und oft auch so reich an Geld wie heute. Nie konnten sie sich so frei von
Konventionen neu verlieben. So scheint das Alter tatsächlich die Zeit zu sein,
in der die Liebe perfekt gedeihen kann. Na ja, fast perfekt. Herz und Verstand
mögen die Liebe im Seniorenalter besonders genießen. Der Körper aber hat seinen
sexuellen Zenit längst überschritten.
Begehren
"Well the birds in your garden
they all
started singing this song:
Take her
now.
Don’t be
scared, it’s alright.
Oh, come
on, touch her inside.
It’s a
crime against nature –
she’s
been waiting all night."
(Pulp)
"Sprechen wir es offen an", sagt Peter Petzold:
"Was geht denn mit 70 noch im Bett?" Den Frauen merke er oft an, dass
sie mit ihrem Körper nicht sehr einverstanden seien. Bei den Männern lasse die
Potenz nach. "Erotische und sexuelle Reize zu generieren ist mit diesen
Einschränkungen nicht einfach."
Hilde Herrmann sagt: "Als ich jung war, war ich
gehemmter. Jetzt möchte ich einiges nachholen. Aber es ist schwieriger
geworden. Man muss schon sehr bereit sein. Man braucht einfach länger."
"Mit Dieter hat es von Anfang an im Bett
gepasst", sagt Ruth Schlorke. "Jetzt bin ich aber im Klimakterium,
was heftig abläuft. Niemand hat mir erklärt, was da mit dem Körper
passiert."
Es ist ungewohnt, mit Menschen zwischen 60 und 70 am fein
gedeckten Kaffeetisch über Sex zu reden. Die Fragen stocken, selbst wenn das
Gegenüber offen und unverkrampft antwortet. Warum eigentlich? Ist es nicht
seltsam, dass in einer Gesellschaft, die sich aufgeklärt gibt, in der über
sexuelle Praktiken bis zum Exzess gesprochen wird, eine Banalität wie der Sex
zweier Senioren als Tabu gilt? Dass ein Film wie Andreas Dresens Wolke 9, der
zwei alte Paare beim ganz normalen Geschlechtsakt zeigt, so viel Aufsehen
erregen konnte? Und welche Folgen hat das, wenn wir verschämt verschweigen, was
mit dem Körper im Alter passiert?
"Ich habe immer wieder Patientinnen, die über die
eigene Menopause völlig überrascht sind", sagt die Gynäkologin und
Sexualberaterin Stefanie Baedeker. "Die nicht wissen, dass die
Durchblutung der Scheide häufig nachlässt, was zu Trockenheit führt, die, wenn
man nichts tut, den Sex sehr schmerzhaft macht."
Die Gynäkologinnen Stefanie Baedeker (l.) und Ruth Schön
und der Urologe Jan Henkel beraten in ihren Praxen viele ältere Patienten zum
Thema Sex.
Die Gynäkologinnen Stefanie Baedeker (l.) und Ruth Schön
und der Urologe Jan Henkel beraten in ihren Praxen viele ältere Patienten zum
Thema Sex. © Marina Rosa Weigl
Er habe immer wieder Patienten, die vor ihm säßen und
fragten: Was, jetzt schon Erektionsstörungen?, sagt der Arzt Jan Henkel, der in
einer der größten urologischen Praxen Kölns arbeitet und jeden Tag ältere
Patienten betreut. "Aber ab Mitte 40, Anfang 50 kann das nun mal
losgehen", vor allem wenn Männer geraucht hätten, unsportlich seien oder
sexuell untrainiert. "Mit Mitte 60 hat etwa die Hälfte der Männer
deutliche Erektionsstörungen, und über 70 wird die Luft sehr, sehr dünn. Da
gibt es nur noch wenige Männer, die ohne Hilfsmittel Verkehr haben."
Baedeker, Henkel und seine Frau, die Frauenärztin Ruth
Schön, haben zu Wein und Pizza in eine Kölner Wohnküche geladen. Zwei Stunden
lang bieten sie eine Art Schnellaufklärung für die zweite Lebenshälfte. Weil
sie in ihren Praxen erfahren, dass das bitter nötig ist.
Befragungen zufolge haben weniger als ein Viertel der 50-
bis 70-Jährigen schon mal mit ihrem Frauenarzt über Sex gesprochen. Stefanie
Baedeker hat viele ältere Patientinnen, die beim Geschlechtsverkehr still vor
sich hin leiden oder ihrem Mann zu verstehen geben: Bei mir geht gar nichts
mehr. "Dabei können wir älteren Frauen so einfach helfen", sagt
Baedeker. "Die sprechen einmal in der Beziehung dieses Öl an und sagen:
Das ist jetzt Sex im Alter, und dann läuft es wieder. Da habe ich einige schon
sehr glücklich damit gemacht."
"Wenn noch bis Mitte der Neunziger die Männer zu mir
kamen und sagten: ›Meine Frau möchte jetzt wieder, aber ich kann nicht mehr‹,
konnte ich denen kaum etwas anbieten", sagt Urologe Jan Henkel. "In
meinem Job gibt es eine Prä- und eine Post-Viagra-Ära." Bevor es
Potenzmittel gab, sei Sex im Alter in seiner Praxis selten Thema gewesen. Das
sei nun anders.
Gerade zum Beispiel sei ein Paar über 70 bei ihm gewesen.
Erst der Mann, der über Erektionsstörungen klagte: "Ich habe ihm gesagt:
Das kriegen wir hin. Aber was ist mit Ihrer Frau? Freut die sich darüber?"
Der Mann habe geantwortet: Das muss ich abklären. Mit der ist es auch nicht
ganz einfach . Kurz darauf sei die Frau gekommen: gerötete, trockene Scheide.
Er habe sie zur Frauenärztin geschickt, sagt Henkel, wo sie seit 15 Jahren
nicht mehr gewesen sei. "Das ist ein ganz süßes Paar, die wollen, haben
aber beide ihre Alterseinschränkungen. Und beiden kann man helfen. Und dann
kommen die auch wieder zusammen."
Eine schwedische Langzeitstudie befragt seit den
siebziger Jahren 70-jährige Männer und Frauen zu ihrem Sexleben. Das Ergebnis:
Ein großer Teil der heutigen Senioren habe häufiger Sex und sei zufriedener mit
seinem Liebesleben als alte Menschen früherer Jahrzehnte.
Aber die schwedischen Wissenschaftler berichten – genau
wie andere Forscher auch –, dass im Alter von 70 Jahren je nach Geschlecht und
Beziehungsform zwischen einem Drittel und gut der Hälfte der Senioren gar
keinen Sex mehr hat.
Die Kölner Ärzte umschreiben es so: Wer will, kann heute
häufig auch. Der Markt der Möglichkeiten hat sich erweitert. Aber viele Ältere
wollen nicht mehr.
Er habe etliche Patienten Anfang 70, die dankbar auf das
zurückblicken, was war, sagt Henkel. Und ihm signalisieren: Herr Doktor, ich
weiß, jetzt ist es eben vorbei. Wenn er denen vorschlage: Es gibt da heute aber
Medikamente, antworteten die oft: Ach nee, lieber nicht. "Und ein Grund
dafür", sagt Jan Henkel, "ist, dass die wissen, die Ehefrau zu Hause
hat auch schon gesagt: Ernst, lass gut sein."
Der Kaffee ist getrunken. Peter Petzold zieht Bilanz.
"Man guckt im Alter sehr genau hin", sagt er. "Wollen wir uns
das antun? Können wir das? Oder sparen wir das Bett lieber aus und gehen ins
Museum?"
Und, sparen Sie den Sex aus?
Er schüttelt den Kopf. Sehr viel seltener sei der Sex
geworden, aber schlechter? Beileibe nicht. "Sex wird – wenn er stattfindet
– im hohen Alter sehr viel spielerischer und zugewandter. Sehr viel weniger
egoistisch." Es sei ein Rumprobieren, sagt er: Was geht bei dir? Was
funktioniert noch bei mir? Wenn man auf das Standardprogramm nicht mehr
zurückgreifen könne, bleibe ein zärtliches, vertrauensvolles gemeinsames
Erkunden.
Frage: Wünschen Sie sich in diesen Momenten nicht doch, noch
mal 30 zu sein?
Er lacht. "Wofür? Es ist doch spannend, mit dem
zurechtzukommen, was heute da ist." Und überhaupt, sagt er, empfehle er
Menschen in seinem Alter Dankbarkeit und Zufriedenheit, denn sie seien in
Sachen Liebe und vor allem in Sachen Sex doch die privilegierteste Generation
überhaupt: "Als wir in die Pubertät kamen, wurde die Darstellung von
Pornografie gelockert. Danach kam die Antibabypille auf den Markt, just als es
bei uns losging. Und jetzt, da wir alt sind, hat man auch noch Viagra für uns
erfunden."
Worte. Der Sohn.
Aus dem selben Pasinger Krankenhaus, in dem am 10. Januar
1975 mein Vater am Bett meiner Mutter stand und ausrief: "Gabi, a Bua
is!!", wird er selbst morgen wieder ins Pflegeheim entlassen.
Für mich begann in diesem Krankenhaus der Weg ins Leben.
Für ihn beginnt hier der letzte Weg, aus dem Leben heraus.
Das Pasinger Krankenhaus hat sich, zumindest im
Eingangsbereich, seit 1975 kaum verändert, wie es scheint. Und ich bin mir
gerade nicht sicher, ob ich in dieser Koinzidenz des Ortes eine besondere
Tragik oder eine gewisse, philosophisch zu nennende Schönheit erkennen soll.
Jedenfalls sind wir alle froh, dass mein Vater in der
extremen Situation der letzten Tage, ziemlich überraschend, zu alter Klarheit
und Entschlossenheit zurückgefunden und damit auch uns eine unmenschlich
schwierige Entscheidung abgenommen hat.
Er ist sich seiner Lage voll bewusst geworden und hat sich
unmißverständlich entschieden, eine weitere Amputation abzulehnen und stattdessen
den Weg ins Sterben anzutreten.
Bei aller Traurigkeit, dass mein Babbi mit hoher
Wahrscheinlichkeit bald nicht mehr da sein wird, erfüllt es mich mit Stolz, den
alten Kämpfer noch einmal so erleben zu dürfen. Auch die Ärzte waren baff über
die kraftvolle Persönlichkeit, die ihnen da plötzlich gegenüberlag und ihren
Willen unzweideutig durchsetzte.
Am stolzesten aber macht mich mein Bruder Schorsch, der ab
heute nicht mehr mein "kleiner" Bruder ist. Er hat in dieser
Situation eine geradezu heldenhafte Rolle gespielt und hat die entscheidenden
Gespräche mit meinem Vater mit großem Mut geführt - während ich selbst an eine
unüberschreitbare innere Grenze geraten war und nach meinem letzten Besuch zwei
Stunden orientierungslos mit dem Auto herumgefahren, aber immer wieder an
diesem Krankenhaus herausgekommen bin.
Ich werfe mir diese Schwäche nicht vor. Im langen Leidensweg
meines Vaters hatte jeder in seinem Umfeld ausreichend Gelegenheit, sich als
handlungsfähig zu beweisen und ich habe das über Jahre hinweg getan. Aber alle
hatten auch ihre Phasen, in denen die Überforderung einfach nicht mehr zu
meistern war. Das ist okay. Es gehört dazu. Das Sterben ist halt für niemanden
einfach - auch und gerade nicht für die Angehörigen.
Jetzt geht es darum, diesen letzten Weg meines Vaters so gut
und so liebevoll wie möglich für und mit ihm zu gestalten, da zu sein, soweit
mein Vater das möchte und einen würdigen Rahmen für die Sterbephase auch
organisatorisch sicherzustellen. Gerade habe ich mit dem Arzt im Pflegeheim
telefoniert, um eine Palliativerklärung vorbereiten zu lassen. Mein Vater
möchte nicht mehr in ein Krankenhaus zurück: nie mehr!
Euch teile ich das alles an dieser Stelle mit, weil Facebook
ja im Normalbetrieb ein Ort der Verdrängung und Zersetzung ist, an dem wir uns
mit unseren jeweiligen Siegesmeldungen auf die Nerven gehen. Was soll das? Auch
hier sollte Platz sein für die Traurigkeit. Denn wo die Traurigkeit keinen
Platz hat, hat auch die Liebe keinen.
ein trauriger, nachdenklicher, liebender Sohn
06.August 2016, (c) Florian Ernst Kirner
Die Lust hört nie auf
Die Sache ist intim. Sehr intim sogar. Trotzdem werben Karin
und Erika offensiv dafür. Mit orange-roten Flyern weisen sie auf ihre
Dienstleistung hin. Karin Engel, die 52-Jährige mit den schulterlangen dunklen
Haaren und der sanften Stimme, und Erika, die 60-Jährige mit den kurzen Haaren
und der Rubensfigur, verteilen ihre Flyer auf Messen, in Heimen, bei Vorträgen.
Es ist keine Fußpflege und kein Essen auf Rädern, was da feilgeboten wird –
aber es spricht ebenso ein menschliches Bedürfnis an. Denn Erika und Karin
bieten körperliche Nähe an: Sie sind qualifizierte Sexualbegleiterinnen.
»Jeder Mensch hat ein Recht auf Sexualität«, sagt Erika
bestimmt. »Und Nähe braucht auch jeder – egal ob ein Baby oder ein alter
Mensch.« Deshalb haben die beiden Frauen sich auf den Weg gemacht: Sie helfen
Senioren und Menschen mit Behinderung dabei, ihre Sexualität auszuleben. Und
zwar meist unter erschwerten Bedingungen – körperliche Gebrechen, psychische
Beeinträchtigungen, Demenz, ein Platz im Alten- oder Pflegeheim, der oft wenig
Privatsphäre zulässt. »Wir sind Pioniere auf unserem Gebiet«, sagen beide.
Vor drei Jahren haben sie sich zu Sexualassistentinnen
weitergebildet. In Nürnberg hatten damals die Familienberatungsstelle pro
familia und Kassandra, der Verein für Sexarbeit, ein Modellprojekt auf die
Beine gestellt: Ein halbes Jahr lang wurden Interessenten in abendlichen
Fortbildungen auf den (sexuellen) Umgang mit behinderten und alten Menschen
vorbereitet. Das Seminar bestand aus neun Modulen – von Hygienevorschriften
über Behinderungsbilder und Erkenntnisse der Alterswissenschaft bis hin zu den
rechtlichen Grundlagen der Sexarbeit. Hebe- und Lagerungstechniken standen auf
dem Stundenplan, medizinisches Wissen über Schlaganfall und Herzinfarkt, auch
die Rahmenbedingungen in Pflegeheimen waren Thema. Und eben immer wieder die
Frage: Wie kann Sexualität unter diesen Umständen gelebt werden?
Fehlender Raum für Intimität
Laut einer Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2006
stehen zwei Drittel der älteren Menschen (61 bis 75 Jahre) Sex keineswegs
gleichgültig gegenüber. Selbst unter den 75-Jährigen verspüren noch 61 Prozent
der Frauen und 58 Prozent der Männer regelmäßig sexuelles Verlangen. Das lässt
auch nicht plötzlich nach, nur weil eine Krankheit dazukommt oder der Umzug in
ein Heim ansteht. Fehlender Raum für Intimität kann dann zu Problemen führen.
Das erleben auch Karin und Erika bei ihren Kunden: Die eine berichtet von einem
Senior, der sich im Altenheim immer wieder bei offener Zimmertür entblößt und
schon mal das Pflegepersonal »befummelt«. Die andere erzählt von einem
82-Jährigen im Rollstuhl, der nachts laut wird, aggressiv ist und um sich
schlägt. »Das war sein Ausdruck dafür, dass ihm körperliche Nähe fehlte«, sagt
Erika.
In beiden Fällen wandte sich das Pflegepersonal an die
Sexualbegleiterinnen. Ohnehin kommen die Kontakte meist über Angehörige oder
Pflegekräfte zustande. Per Telefon oder E-Mail wird vorsichtig angefragt, was
das Angebot umfasse. Beide Frauen bieten den potenziellen Kunden ein unverbindliches
und kostenloses erstes Treffen an, bei dem man zusammen Kaffee trinkt, sich
kennenlernt und entscheidet: Stimmt die Chemie? Ist man sich sympathisch? »Bei
diesen ersten Treffen sind immer alle aufgeregt«, erzählt Karin. »Ich auch. Ich
weiß ja vorher auch nicht, wer da kommt.« Werden die Dienste der
Sexualbegleiterinnen gewünscht, wird ein Termin vereinbart.
Und dann? »Es findet alles statt, was möglich und gewünscht
ist«, sagt Karin. Streicheln, Zärtlichkeiten und ja, auch Geschlechtsverkehr.
Aber das sei die Ausnahme; der Akt stehe eher im Hintergrund. »Viel wichtiger
ist die Nähe: das Fühlen, das Spüren, mal wieder eine Frau im Arm halten«,
erzählt Erika. Mit einem ihrer Kunden hat sie anfänglich nur getanzt – »das hat
ihm schon gereicht«. Schließlich dürfe man nicht vergessen, mit welcher
Generation man es zu tun hat. »Die Bussi-Bussi-Gesellschaft kennen die nicht.
Auch offen über Sexualität zu reden, fällt vielen schwer. Sie sind einfach
anders erzogen.« Menschlichkeit, Vertrauen, Zeit für Gespräche seien deshalb
das A und O. »Wir haben da auch eine soziale Funktion«, meint Erika.
Hauptberuflich in der Altenpflege
Karin Engel und Erika haben eine Vergangenheit als
Prostituierte, Erika arbeitet inzwischen hauptberuflich in der Altenpflege. Im
wahren Leben tragen sie andere Namen; ihre Identitäten möchten sie schützen.
Denn Sexarbeit und Sexualität im Alter sind immer noch Tabu-Themen. Wie offen
sind also insbesondere Heime für ein solches Angebot? Die beiden Frauen
berichten von durchweg positiver Zusammenarbeit: »Durch die Fortbildung hat
unser Angebot einen seriösen Touch erhalten. So tun sich manche leichter, sich an
uns zu wenden.«
Auch Monika Strobel vom NürnbergStift betont: »Grundsätzlich
hätten wir keine Bedenken, die Dienste der Sexualbegleiter für unsere Bewohner
in Anspruch zu nehmen.« Im Moment gebe es zwar keine sexuell Auffälligen in den
vier Wohn- und Pflegeheimen des NürnbergStift, aber auch hier kennt man Fälle,
in denen Senioren übergriffig werden – auf andere Bewohner oder Pflegekräfte.
Deshalb ist Sexualität im Alter ein Thema, das im NürnbergStift »ganz aktiv
diskutiert« wird, so Strobel, die für Personal und fachliche Fragen zuständig
ist. Immer wieder bietet man den Mitarbeitern Fortbildungen in diesem Bereich
an; außerdem steht Alterssexualität für angehende Pflegekräfte expliziert im
Lehrplan des zweiten Ausbildungsjahres. Dabei wird nicht nur besprochen, welche
Bedeutung Lust im Alter hat und wie man damit umgeht, sondern auch, wo die
Grenzen der Pflegenden liegen und wie man sie wahrt.
Entlastung für Angehörige
Die Sexualbegleiter sind insofern auch eine Entlastung für
Angehörige und Personal. Nicht selten bekommen Erika und Karin zu hören:
»Schön, dass Sie da sind! Jetzt ist der Herr wieder eine Weile ruhig und
ausgeglichen.«
Auffällig ist, dass es in den Erzählungen stets um Männer
geht. Und die Frauen? Immerhin zeigte sich bei den Befragungen der Universität
Leipzig, dass die Mehrheit der Seniorinnen bis Ende 70 sexuelle Wünsche und
Fantasien hat. Trotzdem geben bei den über 60-Jährigen nur ein Viertel der
Frauen an, noch sexuell aktiv zu sein – im Vergleich zu 58 Prozent bei den
Männern.
Einer, der ein Lied davon singen kann, ist Hans Glück. Er
hat zusammen mit Erika und Karin die Fortbildung zum Sexualbegleiter
absolviert. Im gemeinsamen Flyer der drei präsentiert er sich mit einem
charmanten Lächeln und kurzen grauen Haaren; steht man ihm gegenüber, fallen
sofort die blauen Augen auf. Trotzdem: Gebucht wurde er von Frauen bisher noch
nicht. Der 62-Jährige glaubt zu wissen, woran das liegt: »Frauen bringen
einfach nicht das Selbstbewusstsein auf zu sagen: ›Ich will Sex.‹« Männern
werde ein solches Bedürfnis zugestanden, Frauen nicht: »So weit ist unsere
Gesellschaft noch nicht. Oder können Sie sich eine ältere Dame vorstellen, die
zu ihrem Sohn, der womöglich das Geld verwaltet, sagt: ›Jetzt bestell mir mal
einen Sexualbegleiter!‹?«
Erfahrungen in der Sexualassistenz hat Hans Glück, der
früher in der Behindertenarbeit tätig war, trotzdem. Von einem Pflegeheim in
Frankfurt am Main wurde er für einen Mann Anfang 70 gebucht – beginnende
Demenz, schwul, ungeoutet. »Er war zur See gefahren und hatte seine
Orientierung sein ganzes Leben lang geheim gehalten«, erzählt Hans. »Bis er
übergriffig wurde auf einen Pfleger.« Hans Glück besuchte den Senior eine
Zeitlang regelmäßig – mit Erfolg. Der Mann sei deutlich umgänglicher geworden,
wurde ihm berichtet.
Wenn Hans davon erzählt, spricht er auch ein anderes heikles
Thema an: Dieser Kunde hatte glücklicherweise ein Einzelzimmer und ein relativ
breites Pflegebett, »da konnten wir ganz gut zusammenkommen«. Oft allerdings
fehlten in den Einrichtungen Rückzugsräume für Intimitäten, bemängeln die drei
Sexualbegleiter. Schon bei einem Zwei-Bett-Zimmer geht nichts ohne die Hilfe
der Pflegekräfte, die dann für »reine Luft« sorgen müssen.
Auch einen weiteren Knackpunkt ihrer Arbeit verschweigen sie
nicht: Es scheitert oft am Finanziellen. Ein Besuch der Sexualbegleiter kostet
etwa 150 Euro pro Stunde; das kann sich kaum ein Senior jeden Monat leisten.
»Viele meiner Kunden treffe ich nur zwei- bis dreimal pro Jahr«, erzählt Karin
Engel.
Der Bedarf ist da
Während sie sich mehr auf die Sexualbegleitung für
behinderte Männer allen Alters verlegt hat, sind Erikas Kunden von 66 bis über
90 Jahre alt und leben meist in Seniorenheimen oder betreutem Wohnen. Etwa 100
Interessenten hatte sie in den vergangenen drei Jahren; ihr Kundenkreis reicht
bis nach Ansbach und in den Bayerischen Wald. »Wir hatten auch schon Anfragen
aus Würzburg, Köln oder gar Berlin«, ergänzt Karin. Der Bedarf ist also da.
Nicht umsonst werden Kassandra und pro familia die Fortbildung in Sachen Sexualbegleitung
in diesem Jahr zum dritten Mal anbieten – und zwar für Interessenten aus ganz
Deutschland.
Auch Monika Strobel vom NürnbergStift prognostiziert, dass
die Bedeutung des Themas Alterssexualität weiter zunehmen wird: »Die nächste
Generation, die zu uns in die Heime kommt, bringt ganz andere Erfahrungen und
Erwartungen mit. Die haben die sexuelle Revolution schon miterlebt.« Außerdem
werde die Problematik Demenz immer mehr in den Mittelpunkt rücken. Schon jetzt
ist etwa die Hälfte der Bewohner des NürnbergStifts von der Krankheit
betroffen.
Dabei erhält das Thema Sexualität in Kombination mit Demenz
noch mehr Brisanz: Mit zunehmender Krankheit fallen oft die Hemmungen,
Sexualität rückt wieder mehr in den Mittelpunkt. Sexualbegleiterin Erika
berichtet etwa von einer dementen Seniorin, die plötzlich danach verlangte, mit
ihrem Sohn zu schlafen – denn die Krankheit hatte sie um einige Jahre
zurückversetzt, auch in ihrem Sexualverhalten, und der Sohn ähnelte dem
verstorbenen Gatten sehr.
Gleichzeitig ist es im Falle einer Demenz nicht einfach zu
entscheiden, ob und welchen sexuellen Kontakt der oder die Betroffene will. »Da
muss man ein guter Beobachter sein«, weiß Erika, der das Thema am Herzen liegt
und die sich dazu privat weiterbildet. »Ich sehe an den Augen, wie jemand
reagiert.« Menschenkenntnis also, und behutsames Vortasten. Demente verwickelt
sie oft in ein Gespräch über früher, »nach dem Motto: Damals waren Sie doch
auch sexuell aktiv…«.
Sie erfährt natürlich viel Privates, viele Lebensgeschichten,
ist näher an den Menschen dran als manch Angehöriger. Ihr ist es schon
passiert, dass ein Kunde sie zurückwies, weil er plötzlich Angst bekam, dass
seine Frau eifersüchtig werden könnte – obwohl diese bereits verstorben war.
Ebenso betreut sie einen dementen Mann, der sie als eine von wenigen Personen
immer wiedererkennt und sie »in die familiäre Richtung schiebt«.
Solche Erlebnisse sind es, die Hans Glück zu der Überzeugung
bringen: »Mit unserem Angebot können wir die Lebensqualität der Leute entscheidend
verbessern.« Aber er hat auch die Gesamtgesellschaft im Blick: Sexualbegleitung
habe schon dann etwas erreicht, wenn das Thema nicht mehr unter den Teppich
gekehrt wird, wenn die Öffentlichkeit darüber spricht, wenn Alterssexualität
»hoffentlich irgendwann kein Tabu mehr ist«. Und dann gibt er noch mit einem
Augenzwinkern zu, dass er die Pionierarbeit nicht ganz uneigennützig leistet.
Denn: »Wenn ich mal ein Pflegefall bin, möchte ich auch noch meinen Spaß haben
dürfen.«
Annika Peißker
„Der Tod gehört zum Leben dazu.“
Johanna Wilke ist
26 Jahre alt. In einer PR-Agentur würde sie nicht weiter auffallen. Auf einem
Friedhof tut sie es. Der Tod ist für sie tägliches Geschäft aber nichts, wovor
man Angst haben müsste. Warum eigentlich nicht? Ein Gespräch über das Leben,
die Lehre aus dem Tod und den Wert der eigenen Wahrnehmung.
Wenn ich an Bestatter denke, denke ich an mittelalte
Männer in dunklen Anzügen. Wie bist du dazu gekommen, dich für diesen Beruf zu
entscheiden?
Ich habe nach dem Abitur ein Jahr in Japan gelebt. Es war
ein sehr einfaches Leben – Stallarbeit, Viehfüttern und Feldarbeit. Einmal war
ich dann mit einer Freundin im Kino. „Nokan, die Kunst des Ausklangs“ – ein
japanischer Film über Aufbahrung und den Abschied von Verstorbenen in Japan
selber. Der Film zeigt sehr einfühlsam, wie wenig Angst man vor dem Tod haben
muss. Als ich wieder in Deutschland war, in dieser Konsumwelt und diesem
extrovertierten Leben, habe ich gemerkt, dass der Film mich verändert hat mit
meiner Haltung zum Leben und eben auch zum Sterben. Und so habe ich mich
relativ unbedarft bei einem Bestattungsinstitut für ein Praktikum beworben.
Was hast du dir
von diesem Beruf erhofft?
Dass ich mit Menschen arbeiten kann und zwar nicht auf
einer oberflächlichen Ebene. Ich habe mir für meinen Beruf ehrliche und wahre
Begegnungen mit Menschen gewünscht. Das Gefühl der Trauer, das Angehörige
spüren, wenn ein geliebter Mensch verstorben ist, ist ein ganz, ganz tiefes und
existentielles Gefühl. Ich möchte für die Angehörigen da sein können als
tragende Kraft und Basis für einen heilenden Abschiedsprozess. Es ist ein
berührender Beruf. Er ist ehrlich und wahrhaftig.
Du sagst, dass du
dir für deinen Beruf ehrliche und wahre Begegnungen mit Menschen gewünscht
hast. Warum ist das wichtig für dich?
Ich lerne mich dadurch kennen. Verlust, Wut, Traurigkeit.
Das sind so intensive Emotionen, die ich begleite und reflektiere. Ich
unterstütze die Angehörigen dabei, den für sie bestmöglichen Weg zu gehen,
einen großen Verlust zu verarbeiten. Ich möchte, dass die Menschen nicht ihre
Gefühle bei Seite stecken sondern durch die Gefühle gehen, sie leben und
ehrlich mit sich sind. Einmal hatte ich eine Mutter bei mir sitzen, die hatte
ihr Kind verloren und konnte es einfach nicht noch einmal sehen. Es war ihr
aber wichtig, dass ich ihr erzählt habe, wie ich ihr Kind versorgt habe. Ich
war das Zwischenglied und habe mich so um das Kind gekümmert, als ob sie es
selber getan hätte. Zwischen mir und dieser Mutter ist eine Verbindung
entstanden, die einzigartig ist.
Welche Fähigkeiten
zeichnen dich als Bestatterin aus?
Am wichtigsten ist Empathie. Außerdem brauche ich
Kreativität, um die Menschen dabei zu unterstützen, den Abschied zu finden, den
sie brauchen. Multitasking ist auch nicht schlecht – handwerklich sowie im
Büro. Unterm Strich ist es eine Arbeit mit Menschen in Ausnahmesituationen. Es
braucht eine gewisse innere Reife. Und man muss für sich selber sorgen können.
Ich glaube das ist eins der wichtigsten Themen.
Du sprichst
hauptsächlich von den Angehörigen. Was ist mit den Verstorbenen?
In meinem Beruf versorge ich zwei Ebenen: die der
Lebenden und die der Verstorbenen. Ich glaube, dass ein Trauer- bzw.
Abschiedsprozess nur dann stattfinden kann, wenn beide Ebenen versorgt sind.
Was bedeutet es
für dich, die Ebene der Toten zu versorgen?
Ich muss einen Toten und seinen Körper auf den letzten
Weg vorbereiten. Ich wasche ihn zum Beispiel – genau so, wie ein Mensch sich
auch waschen und duschen würde, wenn er zu einer Reise aufbricht. Außerdem geht
es darum, Verletzungen zu versorgen, wenn zum Beispiel jemand bei einem Unfall
gestorben ist oder durch Gewalteinwirkung zu Tode kam. Der Tod kann ein
erschreckendes Bild haben. Ich glaube, man kann von niemandem Abschied nehmen,
der nach dem Tod schlecht behandelt wurde. Und ich glaube auch, dass ein Körper
nur gut versorgt Ruhe finden kann und sich nur so die Seele ablösen kann. Es
gibt Auffassungen die sagen, dass eine Seele nicht mitbekommt, dass ein Körper
gestorben ist. Der Körper ist wie ein Kleid, das man bekommt, wenn man auf die
Erde kommt, das man aber eben auch wieder auszieht, wenn man stirbt. Ich
versorge einen Körper und gebe dem Geist Zeit sich zu lösen – er hat ja auch
lange gebraucht, um sich im Körper zu entwickeln.
Wie verarbeitest
du den Anblick und Kontakt mit den Verstorbenen? Kommen da nicht auch Ekel- und
Mitleidgefühle hoch?
Am Anfang musste ich eine zeitlang für mich überprüfen,
was die Begegnung mit einer Leiche mit mir macht. Was macht das Bild einer
ermordeten Frau mit mir oder das eines verstorbenen Kindes? Mittlerweile hatte
ich unterschiedlichste Sterbefälle von Mord bis Suizid, Kinder in
unterschiedlichstem Alter, Krebserkrankungen. Es gibt kein Bild, was ich nicht
verkraften kann. Mein Weg damit umzugehen ist es, meine Energie und Kraft in
die letzte Waschung einer Person zu geben und ein heilsames Bild zu erschaffen,
mit dem auch die Angehörigen Abschied nehmen können. Ich weiß, dass wenn ich
die Familie um die Kleidung des Menschen bitte, ich mit der inneren Haltung
daran gehe, dem Verstorbenen ein stückweit Würde zurück zu geben und ihn damit
auf den letzten Weg zu schicken. Ich will den Verstorbenen so zu recht machen
wie er zu Lebzeiten war – in seiner Kleidung, inkl. Socken und Unterwäsche oder
mit lackierten Fingernägeln, mit Schmuck oder ohne. Wenn jemand mit einem
entspannten Gesicht im Sarg liegt, dann vergesse ich das Bild von vorher. Ich
habe für mich die Erfahrung gemacht, dass ich dieses heilsame Bild mit nach
Hause nehme.
Das heißt der Tod
in seiner direkten körperlichen Konfrontation ist keine Belastung für dich?
Der Anblick eines Toten ist für mich kein Problem. Aber
es gab Situationen, die mich auf der energetischen Ebene beschäftigt haben. Es
gab Sterbefälle, bei denen die verstorbene Person eine Energie umgeben hat, die
für mich eindrücklich war und die mich beeinflusst hat. Ich musste einmal eine
Frau abholen, die unter sehr, sehr verwahrlosten Umständen in einer Wohnung
verstorben war. Es waren nicht die Bilder die mich belastet haben. Ich hatte
eher das Gefühl, dass sie bei uns in den Räumlichkeiten war und ich hatte das
Gefühl, es sei etwas ungeklärt. Dieser Sterbefall brachte ganz viele offene
Fragen und Traurigkeit und Verletzungen mit sich. Ich habe es damals gebraucht,
eine Aussegnung zu sprechen. Das bedeutet, die Seele eines Verstorbenen
anzusprechen und ihm zu erklären, was passiert ist. Ich habe gesagt: „Du bist
verstorben, dein Körper ist bei uns, ich versorge dich, ich schicke dich dich
danach auf den Weg, wo auch immer hin.“
Hast du die
Aussegnung für dich gesprochen oder für die Frau?
Es war in erster Linie mein Weg, für mich zu sorgen, weil
ich einen Eindruck in dieser speziellen Situation mit der Verstorbenen hatte,
der mich emotional belastet hat und mich für eine Zeit verfolgt hat. Ich hatte
da Fragen oder Wahrnehmungen und Empfindungen, die ich nicht erklären konnte.
Es ist sehr schwierig mit Menschen über die Wahrnehmung zwischen Jenseits und
Diesseits zu sprechen, die mit meinem Beruf nichts zu tun haben. Da wird man
von außen schnell als Psycho abgestempelt oder gar als verrückt. Dabei geht es
aber nicht darum, dass ich verrückt bin, sondern es geht darum, dass sich in
mir ein Gefühl eingestellt hat, das mich daran gehindert hat, frei meine Arbeit
weiter machen zu können. Und für mich war in diesem Fall der Frau wichtig,
diese Aussegnung zu sprechen und zu klären, die Verstorbene geht ihren Weg auf
ihrer Seite weiter und ich gehe meinen Weg auf meiner Seite weiter. Und ich bin
hier, um sie dabei zu unterstützen, ihren Körper vorzubereiten für den Weg in
die Erde, zurück in den Kreislauf und sie muss dafür sorgen, dass sie den Weg
findet. In meinem Job ist es einfach wichtig, für sich selber zu wissen, was
für einen gut ist. Ich muss trennen zwischen meiner eigenen Geschichte und der
Geschichte der Angehörigen und Verstorbenen.
Was macht es mit
deinem Leben, jeden Tag mit Tod und Traurigkeit umgehen zu müssen?
Ich glaube, ich lerne dadurch bewusst zu leben. Ich lerne
im Moment zu sein und das anzunehmen, was ich habe und dafür dankbar zu sein.
Am Ende des Tages ist es für mich jeden Tag ein großes Geschenk, wahrnehmen zu
dürfen, dass ich dieses Leben habe und ich weiß, dass es eben auch begrenzt
ist. Es macht mir bewusst, dass ich die Entscheidungen treffen muss, wie ich
meinen Lebensweg gehen möchte und was ich von diesem Leben möchte. Ich habe
viel über mich selber gelernt. Zum Beispiel möchte ich keine oberflächlichen
Freundschaften. Wenn jemand mit mir befreundet sein möchte, dann heißt das,
dass ich mich ernsthaft für diesen Menschen interessiere und ich wissen will,
wer er ist und ich auch will, dass er weiß, wer ich bin. Und ich glaube, dass
ich über meinen Beruf und diese Beschäftigung mit dem Tod ein bisschen weiter
bin, als andere in meinem Alter, was nicht unbedingt einfach ist. Das hat auch
sehr viel Konfliktpotential.
Wie reagiert dein
Umfeld auf deinen Job?
Sehr unterschiedlich, aber eigentlich überwiegend
positiv. Es gibt aber auch Reserviertheit oder Aussagen wie „Wow, dass du das
kannst“. Ich will mit meinem Beruf aber kein Aufsehen erregen. Ich mache diesen
Job für mich. Skepsis und Unverständnis kommt häufig von Menschen, denen in
meinen Augen ein Bewusstsein für sich selber fehlt.
Was sind Dinge,
die du an deinem Beruf nicht magst?
Ich komme teilweise körperlich an meine Grenzen. Man muss
in meinem Beruf einfach sehr schwer heben. Man muss wissen, wie man hebt und
das muss ich auch tatsächlich trainieren – eine starke Rückenmuskulatur ist
sehr wichtig. Aber ansonsten gibt es in dem Beruf nichts, was ich nicht mag.
Was ist in deinem
Beruf Erfolg?
Das hat mich noch keiner gefragt. Ich für mich selber
habe nicht den Anspruch erfolgreich im klassischen Sinn zu sein, sondern den
Menschen etwas mitzugeben und selber zu lernen. Manchmal sagen Angehörige nach
einer Trauerfeier: „Das darf man zwar jetzt nicht sagen, aber das war richtig
schön. Das hat gut getan.“ – „Natürlich dürfen Sie das sagen“, sage ich dann.
Das hat nichts damit zu tun, dass die Trauer verarbeitet ist, aber es hat was
damit zu tun, dass die Angehörigen bei sich sind und nicht nur
Aussichtlosigkeit im Leben sehen und nur Schlechtes und wohlmöglich
Schuldgefühle haben. Wenn sie also aufgeräumt aus der Tür gehen, das ist für
mich ein Gefühl der Zufriedenheit, weil ich weiß, die können Verantwortung für
sich selber übernehmen und können den Weg alleine weiter gehen. Es geht mir
eher darum, so für Leute da zu sein, dass sie sich aufgehoben fühlen und sich
in einer Ausnahmesituation selber wahrnehmen konnten. Dass sie Zeit für sich
selber bekommen haben und die ersten Schritte auf einem heilsamen Trauerweg
gehen konnten. Und wenn mir das gelingt, dann kann man das vielleicht als
Erfolg bezeichnen.
Was lehrt dich
dein Beruf?
Das Verrückte an dem Beruf ist für mich eins: Ich habe
Menschen gegenüber gesessen, die hatten verdammt viel Geld bzw. Menschen, die
gar kein Geld hatten und alles dazwischen. Jeder von diesen Menschen hatte eine
andere Geschichte. Aber wenn der Tod dann da ist, dann fangen alle an
nachzudenken. Und das ist ein Moment, in dem man Menschen wirklich begegnet.
Der Tod gehört eben zum Leben dazu.
Johanna
Wilke: www.trauer-in-liebe.de
"Wer stirbt, will sich doch gut dabei fühlen"
Naomi Feil beschäftigt sich seit ihrer Kindheit mit dem
Altsein - Der Begriff Demenz kommt in ihrem Wortschatz nicht vor Die
Psychologin Naomi Feil ist eine Pionierin im Umgang mit alten, desorientierten
Menschen. Den Begriff Demenz hält sie für abwertend. Ein Gespräch über Respekt,
Lüge und die von ihr entwickelte Methode der Validation.
STANDARD: Schlimmer als die Angst vor dem Tod ist für
viele Menschen die Angst, eines Tages dement zu werden. Können Sie das
nachvollziehen?
Feil: Es ist schade, dass das so ist, liegt aber in der
Geschichte der Erkrankung begründet. Demenz und Alzheimer waren bis in die
70er- Jahre selten, die Menschen starben früher. 1972 wurde eine PR-Initiative
zur Erforschung der damals neu entdeckten Plaques im Gehirn gestartet. Um Geld
zu sammeln, war Dramatisierung Teil der Strategie. Ich denke, dass Demenz bei
sehr alten Menschen ein ganz natürlicher Prozess ist.
STANDARD: Sie vermeiden den Begriff Demenz. Warum?
Feil: Weil es "ohne Geist" bedeutet. Die alten
Menschen haben dann vielleicht den Sinn für die Zeit verloren, kennen also
weder den Tag noch die Stunde, aber sie haben ihre Erinnerungen, in denen sie
leben. Ihr intuitives Gehirn ist intakt, auch ihre innere Weisheit, sie haben
ein Bild von sich, ihr inneres Auge. Es geht darum, in die Welt dieser alten
Menschen einsteigen zu wollen, sie dort abzuholen, wo sie gerade sind. In
unserer Gesellschaft verlangen wir immer, dass sich alte Menschen an die
allgemein herrschenden Regeln anpassen, aber das schaffen sie nicht mehr.
Deshalb ziehen sie sich in sich selbst zurück. Desorientiertheit ist ein
Problem der anderen.
STANDARD: Sie sehen Demenz als soziales Problem?
Feil: Genau. Mein Vater war Direktor eines Altenheims,
ich bin mit alten Menschen aufgewachsen. Es waren meine Freunde. Schon mein
Vater bemerkte, dass desorientierte Menschen orientierte Menschen sehr wütend
machen, weil sie deren Handlungen nicht verstehen. Nach meiner Ausbildung zur
Psychologin kam ich ins Altenheim zurück, versuchte, desorientierte, oft
aggressive Menschen durch Psychoanalyse zu heilen. Aber das funktionierte
überhaupt nicht. Die alten Menschen hörten auf zu sprechen. Irgendwann begriff
ich: Desorientierte Menschen springen in ihren Erinnerungen vor und zurück,
sind losgelöst in der Zeit.
STANDARD: Wie lassen Sie sich dann aber fassen?
Feil: Es geht darum, sie als die Menschen, die sie einmal
waren, zu respektieren. Trotz aller Defizite wissen desorientierte Menschen
meist, dass ihr letzter Lebensabschnitt gekommen ist. In dieser Phase geht es
darum, offene Konflikte zu lösen. Wer stirbt, will sich gut dabei fühlen, das
ist doch sehr einleuchtend, oder?
STANDARD: Wie entdecken Sie diese inneren Konflikte?
Feil: Sehr oft äußern sich diese Menschen in Symbolen,
machen Menschen, die da sind, zu Platzhaltern. Durch die Zerstörung des Gehirns
sind die Kontrollmechanismen weg, da kommt all das raus, was bis dahin
unterdrückt wurde. Meist sind es Trauer, Gekränktheiten, Missbrauch,
Sexualität. Um solche Konflikte zu lösen, gehen Menschen zeitlich dorthin
zurück, wo sie passiert sind, durchleben sie immer wieder, weil ihnen das
Erleichterung verschafft. Irgendwann werden sie ruhig, weil die Konflikte
abgearbeitet sind.
STANDARD: Wie unterstützen Sie diesen Prozess?
Feil: Ich habe eine Methode zum Umgang mit
desorientierten Menschen entwickelt, die Validation. Das Grundprinzip besteht
darin, dass man Empathie aufbringt und seinem Gegenüber die Möglichkeit gibt, Zorn,
Ärger und Ängste auszudrücken, ohne dass Pflegende sie persönlich nehmen.
STANDARD: Wie kam es zum Begriff Validation?
Feil: Ich habe Gruppenarbeit mit alten Menschen gemacht,
hatte keine Bezeichnung dafür, aber meine Arbeit erregte Aufsehen in einer Zeit,
als die vorherrschende Meinung war, man müsse in der Arbeit mit alten Menschen
stets deren Realitätsbezug wieder herstellen. Ich machte genau das Gegenteil,
stieg in ihre Welt ein. Jemand sagte dann, ich validiere Menschen, also ich
bestätige sie, erkläre sie, wie sie sind, "für gültig".
STANDARD: Wie kann ein Außenstehender in unterschiedliche
Welten eintauchen?
Feil: Validation lügt nie, das ist ganz wichtig. Wir
hören zu, wir fragen nach, wir gehen auf die Gefühlsäußerungen ein, sagen
nicht: "Ach was, das stimmt." Wir lenken aber auch nicht ab. Das sind
Dinge, die alte Menschen verärgern. Wir nehmen sie ernst, erforschen, was sie
uns sagen wollen. Wir streiten nie.
STANDARD: Wie funktioniert das?
Feil: Ich gebe ein Beispiel. Eine 90-Jährige schreit:
"Hilfe, Hilfe, ich muss zu meiner Mutter!" In der Validation fragen
wir: "Aber was ist los mit Ihrer Mutter, was wollen Sie von ihr?"
"Weil sie krank ist, ich muss helfen." Wir fragen weiter: "Was
wollen Sie Ihrer Mutter denn sagen?" Oft ist es dann: "Ich hab dich
lieb." Schwierige Mutter-Tochter-Verhältnisse sind weit verbreitet.
STANDARD: Und was dann?
Feil: Wir begleiten Konflikte so lange, bis sie innerlich
gelöst sind. Validation hat einen heilenden Effekt. Sie hilft, unterdrückte
Gefühle zu äußern. Das tut jedem gut. Es ist ja nicht so, dass einen Menschen
nur sein Gehirn ausmacht, auch wie jemand gelebt hat, entscheidet darüber, wie
er sich in der letzten Lebensphase fühlt. Solche Zusammenhänge erforscht nur
niemand. Die Milliarden gehen in die Suche nach der Plaques-Entstehung. Meine
Hypothese ist: Je offensiver ein Mensch mit den Schicksalsschlägen seines
Lebens umgeht, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, eines Tages in einen
Zustand der Desorientierung zu geraten.
STANDARD: Warum?
Feil: Weil unterdrückte Gefühle viel Energie kosten.
STANDARD: Ist Validation kompliziert?
Feil: Wir arbeiten viel in Gruppen, weil das soziale Ich
lange Zeit intakt ist. Grundvoraussetzung für Validation ist Empathie.
Nachfragen, Berührung, Singen: Das schafft Vertrauen, und dann kann die Arbeit
viel Spaß machen.
STANDARD: Wie zum Beispiel?
Feil: Ich kam zu einer desorientierten Frau, die
strahlte. Ich fragte, was sie so strahlen lässt. "Ich habe meine Mutter
getroffen. Es war schön", sagte sie, "es war so schön, dass ich ihr
nicht sagen konnte, dass sie schon lange gestorben ist." Das zeigt, wie
Erinnerung und Wirklichkeit parallel existieren. George W. Bush war im
Wahlkampf auch einmal bei uns im Altenheim. Er fragte eine Bewohnerin:
"Wissen Sie, wer ich bin?" Sie sagte: "Fragen Sie an der
Rezeption, die sagen Ihnen, wer sie sind." Solche Geschichten könnte ich
nicht erfinden. Jeder Mensch, auch wenn er desorientiert ist, behält seine
Weisheit. Das haben mich die alten Menschen gelehrt.
(Karin Pollack, DER STANDARD, 29.10.2012)
Mein Leib und meine Seele
Dieser Leib hat meine Seele, mein
innerstes Ich, seit ich denken kann, behütend umschlossen und durch mein
Erdenleben getragen. Er hat all seine Kraft und Gelenkigkeit aufgebracht, damit
ich davonlaufen konnte und keinen Schaden nahm, als mir damals, nach der
Schule, drei Mädchen mit einem Stein nachliefen. Er hat tapfer durchgehalten,
ohne zu erkranken, wenn ich in meiner Zerstreutheit an kalten Wintertagen viel
zu wenig Kleidung trug.
Mein Leib hat mir dabei geholfen,
meine Liebe auszudrücken. Durch die Wärme, durch den guten Geruch, den er für
mich machte in wichtigen Lebensmomenten, durch seine unwahrscheinlich hohe
Sensibilität, durch die er mich zeigen ließ, was ich geben wollte und was der
Geliebte brauchte. Stets war er Botschafter meines Wesens, Vermittler,
Zuträger.
Dieser gute, starke Leib hat meine
Kinder getragen und geboren für mich. Und all die Jahre meines Lebens war er
für mich da, war er stark, gesund und ein gutes Zuhause für meinen Geist und
meine Seele.
Jetzt ist er müde geworden, mein Leib,
wir kommen beide in die Jahre. Er ist faltig, an manchen Stellen grobporig,
Hornhaut ist auf seinen Füßen von den Tausenden Kilometern, die er in meinem
Dienst zurückgelegt hat.
Der Bauch meines Körpers ist weich,
die Haut geht wohl etwas aus dem Leim, und die Last der Jahre zeigt sich an
Wellen, Dellen und am Überhang. Ich betrachte meinen guten alten Leib im
Spiegel.
Und plötzlich überkommt mich so viel
Liebe für diesen Leib, der alles gegeben hat in den vergangenen Jahrzehnten,
damit ich erleben konnte, was mein heißes Herz und mein ruheloser Geist
verlangten.
Alles hat er mitgemacht, dieser gute
Leib, nie versagte er mir seinen Dienst. Wie könnte ich ihn da nicht lieben?
Ich liebe das weiche Alter seiner Haut. Ich liebe das Gewicht, das dieser Leib
braucht, um zu sein, was er ist.
Ich liebe das Bemühen, immer noch und
immer wieder aufrecht zu gehen wie ein junges Mädchen, auch wenn es manchmal
nicht mehr so einfach ist. Dieser alte Leib ist in seiner leichten Müdigkeit,
die ihm das Älterwerden auferlegt hat, vieltausendmal schöner, als er es im
ungelenken Selbstverständnis der Jugend war.
Mein Leben, mein innerstes Ich, hat
ihn gefordert, hat ihn geformt. Längst kenne ich ihn durch und durch. Wir sind
eins geworden im Laufe des Lebens.
Sich beklagen, weil dieser gute alte
Leib nicht mehr glatt und jung ist? Wie verrückt wäre das denn?
Erschienen in „Welt der Frau“ 10/15 –
von Monika Krautgartner
"Das Alter ist in der Regel ein Zustand, den man noch nicht kennt, man ist noch nicht alt und man kann sich nicht vorstellen wie das sein wird und dass es so sein wird. Ich erinnere mich an einen Ausspruch meines Vaters, der gesagt hat: 'Nun da ich dieses hohe Alter erreicht habe...', da war er 79 Jahre alt und ist bald gestorben. Das ist eine besondere Seltsamkeit, dass er das als ein hohes Alter empfunden hat, das sah man ihm eigentlich auch gar nicht an. Aber trotzdem, er ist bald gestorben, vielleicht weil er bereit war das als gewissermaßen höchstes Ziel schon erreicht zu haben. Naja, das Alter ist zunächst einmal etwas, was sehr fremdartig ist, was mit Kompetenzverlust verbunden ist, sie sind sehr alt und werden nicht mehr gefragt diese Leute, also sozusagen als ein Wenigerwerden. Eigentlich ist natürlich Altern auch ein Zustand des Mehrwerdens, des Älterwerdens, Erfahrungensammelns. Und in diesem Bereich der Einschätzung des Alters bewegt man sich immer wenn man über Alter spricht. Jedenfalls mein Vater hatte gedacht: 'So alt wie ich jetzt geworden bin, 79...' und er fühlte sich gar nicht so alt, '...so alt kann man nur selten werden.' Nun da ich dieses hohe Alter erreicht habe, ist es nichts Besonderes mehr. Viele Männer, die einigermaßen vernünftig gelebt haben, werden 80 und mehr. Ich selbst bin erstaunlicherweise inzwischen 88 Jahre alt. Ja, wenn ich das jüngeren Männern, also sagen wir mal einem Taxifahrer, erzähle, dann hab ich den Eindruck, dass das wirklich Eindruck macht. 88 das ist so eine magische Zahl, mit magischen Zahlen hat das sowieso etwas zu tun, denn man denkt: 'Von hier bis hier ist normal, von da bis da geschieht etwas Unheimliches', das ist vielleicht das Altern. Das Altern als ein Wenigerwerden, als ein Verändertwerden und als etwas, aber das ist glaube ich für das weibliche Geschlecht so besonders ausgeprägt, als ein Verwüstetwerden, Beschädigt werden, ein Wenigerwerden. Neulich habe ich da etwas über die seltsame Droge Botox gehört, von der die Leute immer hoffen, dass sie ihnen eine ewige Jugend beschert, weil die Falten verschwinden und das Gesicht geglättet wird. Die Frage ist, ob ein vollkommen geglättetes Gesicht nicht eher ein Verzicht auf ein Gesicht ist. Denn das Gesicht ist ja das, was sich zeigt, Leben was sich zeigt, Leben das geprägt worden ist und das man vielleicht auch lesen kann, ein Botoxgesicht kann man jedenfalls nicht lesen. Es ist glatt, seltsamerweise ist das ein magisches Ideal. Das Problem bei Jungs ist ja oft anders, das hängt etwas mit Größe, Stärke, Wissen und so weiter zusammen, das heißt ein Junge der noch nicht ein beträchtliches Alter erreicht hat für einen Jungen, also, der noch keine 16 oder 17 ist, der wartet noch darauf dahin zu kommen und er hat auch gar kein Problem damit, dass man das sieht. Im Gegenteil: Man soll das ja sehen. Allerdings das richtige Alter ist ein Schreckgespenst und das ist das Alter, das mit Krückstock und kaputter Stimme und Gebeugtheit und Krankheit und so weiter zu tun hat. Das ist ein Erfahrungsbereich, der gefürchtet wird. Deshalb wird man also, wenn man zu dem Taxifahrer ins Taxi steigt, sagt man ist 88 Jahre alt und damit erklärt warum man so steif da einsteigt und dann Platz sucht und nicht die Stelle findet, wo der Gurt eingesteckt wird. Da hat man dann sozusagen eine doppelte Auskunft, man bittet um Verständnis 'Ich bin alt' und man erwartet Achtung 'Ich bin alt'. Beides.
Das
faszinierende am Altwerden, das ist ja nicht nur das eigene Altwerden, sondern
es ist das Altwerden um einen herum. Da gibt es die erschreckendsten Beispiele:
Verfall und vor allen Dingen Orientierungsverlust, Gedächtnisverlust und dann
auch eine andere Erfahrung des Alterns ist das Sterben ringsum, die
Gleichaltrigen sterben wenn man alt wird um einen herum. Meine Frau ist 91, sie
hat fast keine Freundinnen mehr, obwohl sie so viele Freundinnen hatte mit
denen sie gemeinsam auf Schulen, Internaten war... . Jetzt ist grade wieder
eine gestorben. Kommt ein Anruf, die ist jetzt tot. Lange Zeit hat man nichts
gehört und dann kommen die Todesnachrichten. Das Sterben ringsum ist so zu
sagen ein Preis des hohen Alters, dass man das erlebt. Immer auch mit einem
gewissen schmeichelnden Erfolg: 'Ja, ich lebe aber noch', also der Kitzel der
Vitalität, 'Ich mache noch weiter' oder 'Wir machen noch weiter'. Und das ist
natürlich gleichzeitig verbunden mit dem neuaufkommenden, auch bedenklichen
Nachdenken 'Wie sind sie denn wohl gestorben? Was ist das, das Sterben? Weiss
man das, dass man stirbt? Oder stirbt man, ohne zu wissen, dass jetzt Schluss
ist? Oder macht es gar nichts mehr aus? Oder sehnt man sich danach oder was ist
es?' Das Sterben erlebt man einmal aber man hat Respekt davor muss ich sagen.
Wie wird das sein? Was wird mit einem geschehen? Und immer dann denk ich: Es
ist jawohl klar, dass die Menschen, die ein solches Bewusstsein haben, dass der
Tod nicht etwas ist, was ihnen plötzlich passiert und sie haben's gar nicht
begriffen. Sondern sie dem Tod entgegen gehen, dass sie also auch das Recht
haben mit dem Tod umzugehen und den Tod so zu sagen nach eigenem Empfinden zu
gestalten mit den Mitteln die sie haben. Die Menschen, die nicht mehr glauben,
dass es die große Kompensation gibt: 'Später kommt ihr ja alle in den Himmel
und dann seid ihr unsterblich und dann habt ihr alles im Überfluss', die das
nicht glauben sondern die das Leben als eine begrenzte Strecke sehen, die haben
auch das Recht darauf, dass diese Strecke vollkommen gestaltet wird,
einschließlich des Sterbens. Und die Mittel dazu sind sehr einfach, die hat man
in den Betäubungsmitteln, in den schmerzlindernde Mitteln, Entspannungsmitteln,
angstmindernden Mittel und so weiter. Man kann ja eigentlich nichts mehr falsch
machen. Es sei denn, jemand will den Sterbeprozess wirklich mit einem letzten
Erkenntniswillen durchmachen, also das ist die letzte Erkenntnis, die ich noch
machen kann. Ich sterbe und ringsum da sitzen sie noch und fragen nach mir und
berühren mich und so weiter, aber der
Widerspruch,
der da wohl drinsteckt ist, dass man diese Beobachtungsschärfe sicher nicht
behalten kann, dass sie sich verliert, dass es wie ein Ausatmen ist und ein
Stillstand entsteht. Nicht schlecht wie das so gemacht ist biologisch gesehen,
dass man sich davonmacht und verschwindet. Der friedlichste Tod ist das
Erlöschen einer Kerze, einfach keine Energie mehr da, die Flamme wird kleiner,
flackert und geht aus. Das ist der ideale Tod eines Sterbens, das bis zum Rest
seiner Möglichkeiten ausgelebt worden ist, da ist nichts über geblieben was
noch hätte geschehen müssen. Das Schlimme bei der Todeserwartung ist ja, dass
einem so viel noch genommen wird, wenn man glaubt, man hat es noch. Im Sterben
aber, glaube ich, verschwindet es einfach. Es wird einem nicht genommen, es
verschwindet, man glaubt, stelle ich mir vor, nicht dass man es noch hat und
festhalten könnte und verliert, sondern es verschwindet einfach. So könnte es
sein, das ist meine Hypothese: Also Modell ‚Kerze, die langsam erlischt',
leuchtet, flackert, erlischt. Das ist natürlich so, dass dies auf die ganze
Gesellschaft auch einen Einfluss ausübt, wie man mit dem Leben umzugehen hat
und welche Erwartungen man hat und welche Einrichtungen bestehen müssen damit
man so angstfrei und bis zum Schluss in Würde - hört sich ein bisschen pompös
an - in Würde, gewissermaßen als man selbst stirbt."
Dieter
Wellershoff
Werd´ ich noch jung sein, wenn ich älter bin,
oder werd´ ich dann ersticken an meiner Sicherheit,
und werd´ ich dann statt wild zu kämpfen nur noch
nicken?
Werd´ ich noch jung sein, wenn ich älter bin?
Werd´ ich noch jung sein, wenn ich älter bin,
oder werd´ ich mich verlier´n, werd´ ich noch der
sein, der ich bin,
nehm´ ich das Leben einfach hin?
Werd´ ich noch ich sein, wenn ich älter bin?
Wie werd´ ich ausseh´n, wenn ich älter bin?
Wie einer, dem das Leben glückt, oder gealtert und
gebückt,
mach ich auf jünger und verrückt?
Wie werd´ ich ausseh´n, wenn ich älter bin?
Wie werd´ ich lieben, wenn ich älter bin?
Ist dann mein Blut unter der Haut
nicht mehr so schnell, nicht mehr so laut,
ist mir die Lust nicht mehr vertraut?
Wie werd´ ich lieben, wenn ich älter bin?
Werd´ ich noch da sein, wenn ich älter bin,
oder tret´ ich irgendwann zwischen Syrius und
Wassermann
diese viel zu lange Reise an?
Werd´ ich noch da sein, wenn ich älter bin?
(Konstantin Wecker)
Johanna
rennt
Es
ist irgendwie hypnotisch. So beruhigend. Als ob man ganz für sich wäre, ganz
bei sich.
Johanna
liebt diesen Moment. Den Moment, in dem man sich hinweg gesetzt hat über die
schmerzenden Muskeln, der Moment der Entscheidung. Ich kann nicht mehr, ich
muss aufhören, nein, ich kann…ich will..mich überwinden.
Diesmal
hat Johanna über ihren Körper gesiegt und nun fliegt sie: Es rauscht in ihrem
Kopf. Sie ist frei, befreit vom schmerzenden Körper, frei von allem.
Johanna
rennt. Johanna ist schon immer gerannt.
Wenn
sie gestresst war, traurig, wütend oder fröhlich, Johanna rannte.
Ihre
Kinder, ihr harter Job, alle Verpflichtungen, nichts hat Johanna jemals
wegbringen können vom Laufen.
Doch
nun ist es ihr Laufpartner, der sie bremst.
„Es
reicht jetzt“ sagt er und nimmt sie am Arm.
Sie
betrachtet, ohne anzuhalten, seine Hand auf ihrem Arm .Langsam erwacht sie aus
der Trance, in die sie das Laufen versetzt. Ein Teil von ihr sträubt sich gegen
dieses Aufwachen, gegen das Zurückkehren..
Sie
betrachtet immer noch die Hand auf ihrem Arm:
„Komm,
halt an, bitte“ sagt ihr Laufpartner. Sie dreht den Kopf, um ihn anzusehen. Er
ist hübsch, finde sie.
Sie
kennt ihn, Er läuft jeden Tag mit ihr. Warum nur fällt ihr sein Name nicht ein?
Verwirrt
bremst sie ab.
„Entschuldigung“
Sie ist noch etwas außer Atem, das Wort auszusprechen verursacht Luftnot.
„Ent-schul-di-gung“
sagt sie erneut, langsam, mit tiefen Atemzügen zwischen den Silben
„Wie
war nochmal dein Name?“
Der
junge Mann seufzt tief.
„Ich
bin Stefan, Oma, ich bin dein Enkel“
Johanna
muss lachen. Offensichtlich will der hübsche Läufer sie für dumm verkaufen. Sie
ist doch kaum älter als er.
„Enkel!
Stefan, hör doch auf! Ein Ekel bist du, Eeee-kel, sowas zu sagen!“
Immer
noch lachend will sie seine Hand wegschieben, die auf ihrem Arm liegt.
Dabei
sieht sie es. Seine Hand, ihre Hand darüber.
Johanna
schreit entsetzt auf.
Das
kann doch nicht ihre Hand sein!
Was
um Gottes Willen ist mit ihrer Hand passiert?
Kaltes
Entsetzen greift ihr ans Herz.
Der
junge Mann…wie war noch gleich sein Name…führt sie zu einer Bank.
Dort
sitzt Johanna und betrachtet weinend ihre Hände. Diese knotigen, fleckigen,
alten Hände, die sich anfühlen wie Pergament.
Stefan
kennt das schon. Es passiert jeden Tag, manchmal sogar stündlich. Besonders
schlimm ist das Erwachen aber immer nach dem Laufen.
Johannas
Kinder verstehen nicht, das Stefan noch immer mit ihr läuft, wo sie doch danach
jedes Mal ganz außer sich ist.
Doch
Stefan ist Läufer mit Leib und Seele, er weiß, was Johanna beim Laufen fühlt,
und er glaubt, das ist alles, was sie noch hat, was sie wirklich glücklich
macht.
Seine
Mutter, Johannas älteste Tochter, sagt immer, das Johanna sicherlich eines
Tages beim Laufen tot umfallen würde und das es gänzlich unverantwortlich von
Stefan sei, mit einer 85jährigen solchen Unfug zu veranstalten.
Stefan
denkt, es sei nicht das schlechteste, was seiner Oma passieren könnte. Beim
Laufen tot umzufallen. In dem Moment, in dem sie frei ist, frei von ihrem für
ihr Alter erstaunlich fitten Körper. Frei von der Verwirrtheit, von der Angst,
in die sie ihr von Alzheimer zerfressenes Gehirn versetzt.
„Ich
will nach Hause. Die Kinder müssen ins Bett und Oskar braucht sein Abendessen“
jammert Johanna.
Stefan
nimmt sie in den Arm.
„Omi,
die Kinder sind groß. Deine Ute ist meine Mama, sie ist fast 60. Dein Mann ist
vor 4 Jahren gestorben, Omi.“
Es
muss grausam sein, denkt Stefan, jeden Tag aufs Neue den Mann zu verlieren.
Jeden Tag von dieser Nachricht das Herz zerrissen zu bekommen. Manchmal
überlegt er, ob er nicht einfach sagen soll, ja, gehen wir nach Hause zu Oskar
und den Kindern. Sie hätte eh schon wieder alles vergessen, wenn sie ankämen.
Doch
er will sie nicht belügen, seine Oma. Er will sie nicht belügen, nur weil sie
alt ist und ihr Hirn nicht mehr funktioniert.
Deswegen
erzählt er ihr immer das Gleiche. Jeden Tag. Manchmal sogar stündlich. Die
Wahrheit.
Johanna
trocknet ihre Tränen mit einem Stofftaschentuch, das Oskar , ihrem Mann ,
gehört hat.
„Oh“
sagt sie. „Ich muss es waschen. Oskars Lieblingstaschentuch. Er möchte es
sicher zur Arbeit mitnehmen. Sagen sie, junger Mann, das Wetter ist so schön
heute, wollen wir nicht ein bisschen laufen?“
Sie
zwinkert kokett, und er muss lachen.
Johanna
rennt.
Stefan
wünscht ihr nochmal den Moment. Den Moment in dem sie frei ist.
© Mondendingens
El Tigre
hasta la vista el tigre
dein
schwanz war auch schon härter
deine
stöße kräftiger
deine
nächte lustvoller
dein
stand ausdauernder
hasta
la vista el tigre
dein
gang war der eines räubers
frei
und breit
deine
lenden kraftvoll
deine
nüstern nahmen jede witterung auf
die
den duft der lüste trug
hasta
la vista el tigre
du
bist grau geworden
dein
körper ist nicht mehr so spannend
wie
in den jahren
die
wohl deine besten waren
du
gehst gebeugt
kraftlos
in
deinen augen wohnt die resignation
hasta
la vista el tigre
die
zeit nagt auch an dir
an
deinen kräften
auch
wenn du dich dagegen wehrst
die
jungen fohlen besteigen jetzt die anderen
jene
die
du einst belächelt hast
in
ihrer unbeholfenen lauten balz
hasta
la vista el tigre
was
dir bleibt ist die erinnerung
was
dich reizt sind deine träume
was
dich quält
ist
diese
verdammte lust
die
einfach
nicht
erlischt
©
Ron Hard
Vom Alt werden – Gefährliche Zeiten
von
Angelika Wende
Ich
werde alt. Meine Freunde werden alt.
Was aber ist alt?
Für
mich beginnt alt werden dann, wenn wir die Fünfundfünzig überschreiten, denn
dann geht es stramm auf die Sechzig zu, dem Herbst des Lebens entgegen. Und der
ist kurz, das Meiste ist gelebt, das muss man sich einmal klar machen.
Zugegeben keine leichte Übung, ohne gleich eine klitzekleine gepflegte
Panikattacke zu bekommen. Wahr ist, wer die Mitte der Fünziger überschreitet
weiß, es ist nicht mehr all zu viel Zeit übrig, definitiv weniger als die Zeit,
die bereits gelebt ist. Der Winter des Lebens ist mitunter noch kürzer oder
lang und ziemlich grau und kalt, wenn ich mir die Schicksale vieler alter
Menschen anschaue, die allein ihr Leben verbringen, ohne Hoffnung, dass etwas
anderes ihre gebrechliche Einsamkeit beenden könnte als der Tod, der alles beendet
und damit auch die Einsamkeit. Aber wer will schon lieber tot sein als einsam,
ich nicht.
Da
fällt mir ein Gedanke des Psychoanalytikers Otto Rank ein: "Der Mensch ist
sein Leben lang zwischen zwei Polen der Angst hin und her geworfen: zwischen
Lebens - und Todesangst. Die Lebensangst ist die Angst, sich dem Leben als
isoliertes Individuum zu stellen, die Angst vor der Individuation, davor
vorwärts zu gehen. Die Todesangst ist die Furcht vor der Auslöschung, dem
Verlust der Individualität, davor sich wieder im Ganzen aufzulösen",
schreibt Rank sinngemäß. Darüber lohnt es sich eine lange Weile nachzudenken,
besonderes, wenn man das selbst nicht so fühlt. Ich nicke an dieser Stelle. Ich
empfinde das so und ich habe Angst, allerdings mehr vor dem Tod, besonders
jetzt, wo ich im Frühling, der vor meinem Fenster mit aller Kraft aufbricht, in
meinen persönlichen Herbst wandere.
Das
ist jetzt kein schöner Einstieg in das Thema Alt werden, ich weiß. Das liegt
daran, dass ich alt werden nicht schön finde, außer, dass ich es schön finde
noch immer zu leben, es könnte ja auch anders sein. Aber wie lange lebe ich
noch? Ich habe nicht die leiseste Ahnung und das ist gut so und wieder nicht
gut, denn wenn ich es wüsste, könnte ich leichter entscheiden, was ich mit der
mir verbleibenden Lebenszeit anfangen will, was ich wirklich als wesentlich für
mich empfinde und es radikal leben, was ich bisher nicht mache, weil ich oft
denke, ich habe so viele Möglichkeiten, probier sie alle aus. Aber das wird
nicht mehr lange so sein, das mit dem alles ausprobieren, weil die Zeit doch
etwas knapp wird, für Alles.
Das
Alter ist eine Herausforderung für alle Menschen, auch für die, die mir sagen,
und das meist mit einer wegwischenden Handbewegung, was viel mehr über den
wahren gefühlten Gehalt ihrer Worte aussagt, als das Gesprochene: " Och,
macht doch nichts, wir werden alle alt, man ist so alt wie man sich
fühlt." Man möge mir verzeihen, ich kann bei solchen Platitüden nur
denken, "Dummkopf, wem willst du da grade etwas vormachen? Dir oder
mir?" Dem Alter das Positive abgewinnen ist eine Kunst und diese erfordert
meiner Meinung nach eine ziemliche Verrenkung um darin Meisterschaft zu
erlangen. Aber ich schaffe das, wenn die Zeit, die Weisheit und die
Gelassenheit, die mir das Alter hoffentlich schenken, dabei helfen. Mit
Platitüden und dem Wegwischen dessen, was ich nicht sehen will, wird das
allerdings nichts.
Das
Alter ist Gegenstand medizinischer, biologischer psychologischer,
philosophischer, sozialgeschichtlicher, literarischer und sozial- und
kulturwissenschaftlicher Betrachtung.
Mit
den mit dem Älterwerden und dem Altsein verbundenen Phänomenen, Problemen und
Ressourcen beschäftigt sich die Alterswissenschaft, die Gerontologie. Aber
trotz aller wissenschaftlicher Analyse und Auseinandersetzung mit dem Alter,
gibt es eine unumstößliche Tatsache: Die Mitte des Lebens, der Zenit unserer
gelebten Zeit, ist eine Zeit von höchster psychologischer Wichtigkeit: Sie ist
der Point of no Return.
Die
Mitte des Lebens ist ein Höhepunkt und jedem Höhepunkt folgt unwiderruflich die
Bewegung nach unten. Eine gefährliche Zeit für viele von uns.
Die
Bewegung nach unten ist zunächst einmal nichts Negatives, wenn wir nicht
bewerten. Aber hier macht es Sinn genau das zu tun. Was das Altern angeht
bedeutet nach unten, was unseren Körper betrifft, es beginnt ein langsamer und
stetiger Verfall, vorausgesetzt es trifft uns nicht das Schicksal einer
schweren Krankheit, die diesen Verfall beschleunigt oder gar vorzeitig mit dem
Tode beendet. Im Alter krank zu werden ist, wie die Erfahrung zeigt, von hoher
Wahrscheinlichkeit. Der Körper verbraucht sich mit dem Vergehen von Zeit und
mit dem, was in der Zeit geschieht. Er zeigt Abnutzungserscheinungen.
Nichts bleibt in den Kleidern stecken.
Wir
können unsere Erfahrungen, besonders die leidvollen nicht einfach abstreifen
wie ein Kleidungsstück. In jeder einzelnen Zelle sind sie gespeichert, unsere
Wunden und unsere Verletzungen. Wir gehen nicht unverwundet durchs Leben –
keiner von uns tut das. Die körperlichen Kräfte lassen spürbar nach, bei den
Meisten von uns modernen Menschen, die ihre Tage nicht mit Muße und Kurzweil
verbringen, sondern mit einer Menge Stress und emotionalen Belastungen. Das
nennt man Leben und jetzt komme mir bitte keiner mit Spaß, Freude,
Kontemplation und Spiel. Die wenigsten, die ich kenne, würden so ihren
Lebensalltag beschreiben und es wäre auch glatt gelogen. Die Nischen um Zeit in
Muße zu verbringen müssen sich die meisten Menschen hart abringen. Das Leben
ist ein Kampf ums Überleben - monitär, emotional und seelisch, und wenn ich mir
die Gesichter da Draußen anschaue, komme ich nicht umhin zu sagen: nach Spaß,
Freude und Spiel sehen sie alle nicht aus, sie kämpfen, mit sich selbst vor
allem mit den Umständen des Lebens, die nicht immer dem entsprechen, was wir
selbst wollen. Die Gefahr, dass der Körper irgendwann nicht mehr die
Widerstandskraft hat alles zu schlucken und gesund zu verdauen ist hoch, denn
was die Seele nicht verarbeitet manifestiert sich in körperlichen Symptomen und
Erkrankungen. Die Seele und der Körper wollen das Gleiche. Als Substanz aller
Lebewesen ist die Seele die Form, sie ist selbst körperlos, sie ist die Essenz,
die unser Körper umhüllt, sie der Mittelpunkt, der Kern des Körpers. Alles was
wir tun ist Seele in Aktion, ist Seele in Verkörperung. Schon Aristoteles
wusste, der Körper wird regiert von seiner Form, der Psyche, der Seele. Er
nannte diese Interaktion enérgia, (Lebens)energie. Diese Lebensenergie ist
endlich.
Das
Altern ist der Weg, der mit einhergehendem Energieverlust in die Endlichkeit
führt. Ein Prozess, der auf drei Ebenen geschieht – körperlich, seelisch und
geistig.
Am
wenigsten beeinflussbar ist die körperliche Ebene. Auch wenn wir gesund leben,
nicht rauchen, nicht trinken, auf eine bewusste Ernährung achten und uns
bewegen – nichts davon ist ein Garant, der uns vor Verfall und Krankheit
schützt. Gesundheit unterliegt nicht in unserem Einfluss, auch wenn wir das nur
allzu gerne glauben wollen, und alles, was wir nicht beeinflussen können macht
uns Angst. Daher ist es ganz natürlich, dass viele Menschen Angst haben alt und
krank zu werden. Beides zugleich ist eine schwere Bürde und ein großes Leid,
das sich keiner von uns wünscht, vorstellen kann oder glaubt „verdient“ zu
haben.
Alter ist gekonnter Umgang mit der Angst.
Auch
das und vor allem das. Wir haben Angst unsere letzten Jahre nicht so zu
erleben, wie wir es uns vorstellen. Und die Realität in der wir leben, beweist
uns, dass diese Angst durchaus berechtigt ist. Ich kenne viele Ehen, die im
Alter zerbrechen, ich kenne Menschen, die im Alter schwer erkranken, ich kenne
Menschen, deren Existenz im Alter vollkommen zusammenbricht und ich kenne
Menschen, die in diesem Alter viel zu früh von uns gehen. Die einzige Haltung
die wir dieser realen Angst entgegen setzen können ist die Überzeugung – egal
was kommt, ich werde damit fertig – trotz der Angst. Das ist gekonnter Umgang
mit der Angst - Angst zulassen und trotzdem den Mut der Zuversicht zu üben und
ihn zu leben. Jenseits von Alterspessimismus und Altersverklärung sollte eine
Auseinandersetzung mit diesem archetypischen Thema aber vor allen Dingen das
Altern selbst als conditio humana, als allgemeine Bedingung des Menschseins und
der Natur des Menschen, ernst nehmen und nach Wegen und Möglichkeiten suchen,
wie wir unser Altern in seiner Unabwendbarkeit und als natürlichen Prozess
sinnvoll als letzte Phase in unser irdisches Lebens integrieren können. Es
macht Sinn, sich damit zu befassen, denn auch Wissen ist ein gutes Mittel gegen
die Angst, ebenso wie das Denken – und zwar das Konstruktive.
„Es
kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins
Gelingen verliebt statt ins Scheitern", schreibt der Philosoph Ernst Bloch
im hohen Alter.
Wer
sich aufs Hoffen verlegt, macht den ersten Schritt, wer hoffnungsvoll handelt,
wobei mir Zuversicht besser gefällt, denkt und handelt im Bewusstsein des
Gelingens. Und es ist völlig egal, ob er dann trotzdem scheitert, die gelebte
Zeit in der Zuversicht, sie gestalten zu wollen und zu können ist
Lebensbejahung und jedes Ja zum Leben schenkt uns Kraft und Lebensfreude. Egal
wie alt wir sind. Irgendwann trifft sie jeden von uns: die Erfahrung von
Endlichkeit, die Angst vor Einsamkeit, Krankheit, Sterben und Tod, die
Vergänglichkeit und der damit einhergehende Verfall und die Entfremdung vom
eigenen Körper, vor allem aber: die Frage nach dem Sinn unseres Lebens und die
Akzeptanz des endgültigen Abschieds vom Leben. Der Geist fragt ständig nach dem
Sinn des Lebens. Die Sinnfrage ist eine Grundfrage des Menschen, die wir uns in
jedem Alter stellen. Angesichts des näher rückenden Lebensendes wird sie jedoch
drängender. Was uns unbewusst oder bewusst klar wird ist die Irreversibilität
und das Vergehen der Zeit. Und damit kommt eben genau die Frage: Was war und
was mache ich mit dem unbekannten Rest, der mir noch bleibt?
Es bleibt nicht mehr allzu viel Zeit.
Zeit
ist Veränderung. Und mit dem Fluss der Zeit geht auch das Wunder des Neuen, des
Unbekannten, des noch nicht Erforschten und des noch nicht Erfahrenen einher.
Im Alter gibt es nicht mehr allzu viel Neues zu entdecken. Menschen, die ihr
Leben aktiv, bewusst und neugierig gelebt haben, wissen, dass es so ist. Nicht
mehr allzu oft ist da dieses wundervolle staunende erste Mal. Das Staunen
verliert sich, ob des bekannt Vertrauten. War die kindliche und jugendliche
Lebensphase ein schier unerschöpflicher Kurs im Wundern, so wundern wir uns mit
zunehmendem Alter immer weniger. Man nennt das Gelassenheit. Sie ist zum einen
eine Qualität, zum anderen ein Verlust, ein Verlust an Naivität, Unschuld,
Staunen, Euphorie, Leidenschaft, Ektase und Leichtigkeit.
Das
Alter kennzeichnet sich durch Schwere und Schwäche.
Die
Schwerkraft zieht nach unten, die Gesichtszüge, die Haut, die Gedanken, die
Gefühle. Schwere und Schwäche ziehen uns nach unten in Richtung Erde. "Im
Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen, bis dass du wieder zur
Erde kehrst, von der du genommen bist; denn du bist Staub und kehrst wieder zum
Staub zurück!" (Genesis 3,1)
Erde
zu Erde, Staub zu Staub - ein natürlicher Vorgang, wenn auch unschön und
beängstigend, denn wir wollen nicht zu Staub verfallen. Wir haben aber keine
Wahl. Am Ende sind wir wahllos und unser Wille richtet rein gar nichts mehr aus
gegen das Unabänderliche. So gesehen ist der Körper unserem Geist in seinem
„nach unten gehen“ voraus und damit zeigt er uns wieder einmal seine unendliche
Weisheit.
Der Körper lügt nicht, er spricht die Sprache der
Seele.
Jeder
Versuch das Altern künstlich aufzuhalten ist ein untauglicher Versuch am
untauglichen Objekt, es ist schierer Selbstbetrug und zugleich ein sinnloser
Eingriff in die Natur. Botoxspritzen, Liftings, und kostspielige Anti-Aging
Maßnahmen sind äußere Zeichen des inneren Widerstandes gegen die eigene Natur,
die über künstlich verlängerte Haltbarkeitsdaten nur lächelt, denn auch wenn
wir uns die Falten aus dem Gesicht spritzen lassen, der Hals und die Hände
zeigen die Wahrheit. Da sind dann manche Teile Sechzig und manche Vierzig und
bitte sehr, wie sieht das aus? Mit Harmonie hat das nichts zu tun und Harmonie
ist für mich der Ausdruck von Schönheit, Innen wie Außen. Wie viel Kraft kostet
so ein Widerstand, wie viel Energie, die Lebensenergie raubt, die sich anders
und sinnvoller nutzen ließe. Wir sehen, wenn wir uns unters Messer des
Schönheitschirurgen begeben haben, vielleicht im Gesicht jünger aus – wir sind
es aber nicht. Wir glauben der Zeit ein Schnippchen schlagen zu können, die
Zeit interessiert das aber nicht. Sich im Alter krampfhaft und mit allen
Mitteln jung zu geben wirkt lächerlich und ist würdelos. Sich dem Alter
hinzugeben im Sinne von - sich ihm zuwenden - ist weise. Und Weisheit hat auch
ihre Schönheit. Ich erinnere hier an die wegwischende Handbewegung.
„Werde,
der du bist“, schreibt Friedrich Nietzsche. Und alle klugen Leute nicken
zustimmend. Aber wie wollen wir werden, wer wir sind, wenn wir nicht einmal
fähig sind, zu akzeptieren, dass wir altern und irgendwann auch alt sind.
Wenn
wir verzweifelt versuchen einen Zustand im Außen wieder herzustellen, der sich
längst überlebt hat, ist das nicht im Sinne eines Werdens und nicht im Sinne
einer Entwicklung nach Vorne. Wer nicht altern will bleibt stecken. Wie eine
Schlange, die sich nicht häutet, in der alten Haut. Übrigens - die Schlange
würde ersticken. Was ersticken wir mit einer Verweigerung, die sich gegen das
Vergehen der Zeit, gegen die Vergänglichkeit dessen, was wir sind, richtet?
Diese Frage möge sich jeder selbst beantworten.
Heraus lösen, sich lösen, loslassen ist eine der großen
Aufgaben des Alters.
Es
ist zugleich die Aufgabe mit der Angst zu leben, auch mit die Angst nicht genug
gelebt zu haben, nicht erreicht zu haben, was wir uns vorgestellt und ersehnt
haben und mit genau dieser Angst einverstanden zu sein. Denn sie ist da und je
mehr wir uns gegen sie wehren, desto mehr wird sie uns beherrschen und damit
lähmen. Das muss so nicht bleiben. Der Weg um Frieden zu schließen, mit sich
selbst zufrieden zu sein, ist sich von den Vorstellungen zu lösen, wie man es
gern gehabt hätte oder es hätte sein können oder wie man, oder es sein könnte
und zulassen wie es ist. Auch das ist eine Kunst. Das Altern mit aller Macht
aufhalten zu wollen, das Gelebte zu verdammen oder mit ihm zu hadern und wenn
die Zeit knapp wird mit Macht eine künstliche Jungendlichkeit erschaffen zu
wollen, die uns alles nicht Gelebte auf den letzten Drücker endlich bringen
soll, ist ein künstlicher Akt und alles Künstliche spüren wir und auch die
Anderen instinktiv. Alles Künstliche ist unecht und damit gegen das Leben und
gegen uns selbst gerichtet und sehr ungesund.
Auch
im Alter findet der Geist Möglichkeiten um der verbleibenden Zeit
Lebensqualität zu geben, trotz eines nicht mehr jungen Körpers.
"Die
Mitte des Lebens ist", wie C.G.Jung schreibt, „der Moment größter
Entfaltung, wo der Mensch noch in seiner ganzen Kraft und seinem ganzen Wollen
in seinem Werke steht. Aber in diesem Moment wird der Abend geboren, die zweite
Lebenshälfte beginnt. Statt vorwärts blickt man häufig unwillkürlicherweise rückwärts
und beginnt sich Rechenschaft zu geben über die Art und Weise wie sich das
Leben bisher entwickelt hat. Man sucht nach seinen wirklichen Motivationen und
macht Entdeckungen.“
Das letzte Abenteuer beginnt Innen, in uns Selbst.
Das
ist das Entscheidende - Entdeckungen machen und zwar im eigenen Inneren.
Sich selbst, seine Eigenart, sein Wesen, sein Schicksal und seine Biografie zu
verstehen versuchen. Die Fülle von Erlebnismöglichkeiten im eigenen Inneren
sehen, den eigenen inneren Raum betreten, beleuchten und sich im eigene Haus
heimisch machen - eine Möglichkeit sich mit uns selbst anzufreunden, bevor es
zu spät ist. Das ist für mich die größte Aufgabe. Und was wir an Wissen,
Erfahrung und Weisheit gesammelt haben an die Nächsten weitergeben, es in die
Gemeinschaft tragen, damit es wirken kann. Der Tod ist ein Schatten, den wir
nicht abschütteln können, aber wir können, bevor er uns gänzlich umfängt, Licht
ins eigene Leben und in das Leben anderer bringen.
Ich
kenne alte Menschen, meist sind es künstlerisch orientierte, die im Alter noch
großartiges schaffen, die Werke schaffen, die ihnen als junger Mensch so nicht
gelungen wären. Ich kenne alte Menschen, die das eigene Leben reflektieren und
festhalten. Beispielsweise in Tagebuchaufzeichnungen, im Schreiben der eigenen
Biografie. Mit dem Alter ändert sich das Alltagsleben meist radikal. Wir
scheiden aus dem Berufsleben aus, die Kinder haben ihr eigenes Leben, nahe
stehende geliebte Menschen sterben, das soziale Netz wird immer brüchiger und
um vieles kleiner. Das Gefühl nicht mehr gebraucht zu werden stellt sich ein
und vor allem erwartet uns im Zweifel die Begegnung mit der Einsamkeit. Und am
härtesten trifft diese Einsamkeit die, die nichts haben, was sie von Innen
hält, eine Passion, eine Leidenschaft, ein tiefes Interesse oder einfach ein
Hobby, das sie lieben.
Davor fürchten sich die meisten Menschen, außer vor
Krankheit und Armut. Sie haben Angst alleine und einsam alt zu werden und zu
sterben.
Und
sie stürzen deshalb nicht selten in eine tiefe Krise. Diese an Leib und Seele
erlebte Krise steht im Gegensatz zur Auffassung vieler Philosophen, die das
Alter schätzen, nicht zuletzt, weil Altern die Fähigkeit einschließt, sich in
der späten letzten Lebensphase einen Überblick über das eigene Leben zu
verschaffen, Zusammenhänge zu erkennen und damit einen individuellen,
möglicherweise tieferen Lebenssinn für sich zu gewinnen als in der Jugend. Um
es mit Schopenhauer zu sagen: „Die ersten vierzig Jahre unseres Lebens liefern
den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu.“ Warum ihn also nicht
niederschreiben? Warum nicht die Krise nutzen um zu erkennen, wer wir im
Tiefsten sind? Klarheit schaffen und aufräumen, was liegen geblieben ist, auch
das was im Inneren nach Ordnung schreit. Frieden machen mit dem, was Unfrieden
in der Seele stiftet - eine Möglichkeit.
Dennoch
wahr ist auch: Alter ist zunehmende Zukunftslosigkeit.
Um
es in mit Karl Valentin zu sagen: „Die Zukunft war früher auch besser.“
Früher,
in der Kindheit und in der Jugend scheint uns die Zeit viel zu langsam zu
vergehen. Wir können es kaum erwarten älter zu werden. In der Mitte unseres
Lebens erscheint es uns, als renne uns die Zeit davon. Im Alter haben wir das
Gefühl sie zerfließt uns in den Händen. Ihre Vergänglichkeit wird zur
existentiellen Bedrohung, wenn es uns nicht gelingt, uns mit ihr anzufreunden.
Es ist schwer, ich weiß das, es ist schwer zu erfahren wie das, was mir früher
mit Leichtigkeit gelang, mich heute Anstrengung kostet und es ist schwer zu
spüren, dass ich schneller ermüde und es ist schwer zu sehen, dass manches
einfach nicht mehr geht. Es ist schwer zu erkennen, dass es immer schwerer wird
Menschen zu finden, die mir entsprechen und mit denen ich meine kostbare Zeit
verbringen will.
Zeit – das magische Wort.
Aber
was ist Zeit? Sie ist das beständige Ticken der Zeiger der Uhr, das Vergehen
des Augenblicks und der Übergang in den nächsten. Zeit ist Bewegung und
Fließen. Aber das Wunder der Zeit ist: Zeit ist immer relativ in unserer
Empfindung. Bedrohlich wird sie dann, wenn wir glauben, etwas nicht erledigt zu
haben, etwas nicht getan zu haben, etwas versäumt zu haben, etwas verloren zu
haben, etwas nicht mehr haben zu können, etwas nie mehr erreichen zu können,
etwas nicht mehr wieder gut machen zu können, etwas nicht mehr ändern zu
können, etwas nicht mehr wieder zu bekommen, etwas nie mehr zu bekommen oder
etwas nie mehr tun zu können. Aus jedem nie mehr resultieren Fragen, die
geradezu danach schreien Antworten zu finden. Diese dann neu zu deuten, sie
anders zu betrachten, sie zu relativieren, Ambivalenzen herauszufinden und sich
am Ende vielleicht zu sagen – ich habe das getan, was ich genau in diesem
Moment in der Zeit habe tun können, was in meiner Macht stand in diesem Moment
auf meiner Entwicklungsstufe. Das ist der Beginn des inneren Friedens – das
Wesentliche für mich, wenn ich an ein würdevolles Alter denke.
Wir
sind vergänglich und unser Leben ist endlich – das lässt sich nicht
philosophisch wegdiskutieren. Doch wir können der Angst in Bezug auf das Alter
das Bedrohliche nehmen. Es liegt an uns, das Potential jeder Lebensphase zu
nutzen und zu entfalten. Was mein Altern angeht, so halte ich es mit Cicero:
„Vor nichts muss sich das Alter mehr hüten, als sich der Lässigkeit und
Untätigkeit hinzugeben.“ In diesem Sinne: Entdecken wir die Möglichkeiten und
zwar jene, die für uns selbst wesentlich sind, solange wir es noch können.
©
Angelika Wende Vielen Dank!