......................................................................Unsortiert, Verquert, Spontan, Geklaut, Verdaut und Ausgekotzt

55

Mit fast 55 Jahren stelle ich überrascht fest, dass die Energien für grundlegende Neuanfänge tiefer in mir vergraben scheinen als in früheren Jahren und der Zugang zu ihnen beschwerlicher. Zum ersten Mal in meinem Leben huschen mir Gedanken wie „Das schaffe ich nicht noch einmal“ oder „Du solltest dies und das nicht aufgeben, denk doch an die kommenden Jahre, wenn du nicht mehr so gut laufen, sehen, hören, körperlich mithalten kannst“ durch Kopf und Gemüt.

Kompromisse winken verführerischer als noch vor einiger Zeit und es kostet mehr Kraft aufgrund des jetzigen Befindens und nicht aufgrund ängstlich vermuteter kommender Ereignisse meine Entscheidungen zu treffen. Ich empfinde dies vage beunruhigend und mir fremd. Trotzdem ist es plötzlich da und ich muss mich immer öfters über den Verstand dazu bringen im Jetzt zu bleiben und nur das Jetzt zur Grundlage meiner Entscheidungen zu machen. Es breitet sich so eine seltsame, bisher unbekannte und noch unkontrollierbare Ängstlichkeit in mir aus.

Dies betrifft auch und gerade Beziehungen -> Sollte man in „meinem Alter“ nicht zufrieden sein mit den gewachsenen Partnerschaften und eingeschliffene Verletzungen gelassen als geringen Preis für verlässliche Sicherheit und grundlegende emotionale Versorgung hinnehmen? Phasen des Alleinseins nicht mehr riskieren, obwohl es hier und dort und da nicht passt und zwickt? Sich mit den bekannten und wohldosierten Sinnlichkeiten begnügen, weil besser als gar nix ist das allemal?

Och, das ist so schön bequem und auch gesellschaftlich korrekt. Das tut richtig weh in seiner Behäbigkeit, eingebettet in allgemein wohlwollender Akzeptanz.

Doch was ist mit dem Hunger und der Gier nach neuer, fremder Haut, Gerüchen, Klängen, Worten? Was ist mit der grummelnden Sehnsucht nach der Magie des Beginnens? Was ist mit all den Träumen und Sehnsüchten, die ja doch noch recht lebendig und fordernd durch mein Gemüt und meine Seele hopsen?

Nöh, ich will mich diesem sich schleichend einschleichenden „Zufrieden sein müssen“ noch nicht ergeben. Lasst uns in vierzig Jahren noch mal drüber reden. Punkt.

Mit 80

"Wenn ich mal 80 bin und meine Partnerin tatterig meinem Befehl
"Nimm deine Zahnprothese raus, du Schlampe!" artig nachkommt,
dann graut es mir nicht vor der Endlichkeit."

Herbstzeitlose


Zeitlos wandelte ich durch all die Jahre.
Sah die Blumen, die Sterne, den Tau,
hörte den Wind in den Tannen,
lauschte dem Gluckern der Wellen am Strand.

Fand für alles Worte und Bilder,
nur für mich selbst, da fand ich sie nicht.
Ein Holpern nur, Wortfetzen, verhüllste Sätze,
starre Bilder, glanzlose Strichereien.
Momentaufnahmen im Gegenlicht.

Die Blumen werfen die Blätter nun,
der Tau vereist und die Sterne verblassen.
Aus dem Wind um das Haus wird ein Orkan,
das Meer tobt unbändig über das Land.
Worte versiegen, Bilder verblasen.

Gemütlich heimelig ist da gar nichts mehr.

Wenn die Jahre wechseln


Ich bin so recht ein armes Weib
Geschlagen von der Zeit zurzeit
Sie zwickt mich hier, sie zwackt mich dort
Die Zeit, sie treibt mich um und fort

Die Wechseljahre quälen mich
Bin nicht ganz Fleisch und auch nicht Fisch
Mal blut ich aus, mal bin ich leer
Mal heiße Glut, mal eisges Meer.

Ich tanze auf des Wahnsinns Rand
Bin heiter, sanft, dann kalte Wand
Hormone schwelgen in der Brust
Die Lust jetzt Brunst, dann wieder Frust

Du jammerst, klagst und leidest laut
Ach Liebchen, wer dich so anschaut
Der fällt vor Mitleid nicht in Starre:
Du hast ja noch ganz viele Haare

Drum, husch, mach dich mal auf geschwind
Renn jeden Morgen mit dem Wind
Ess Müsli, Obst und mit Geschick
Gelingt dir mehr als noch ein Fick

Ach Weib


Als die Brautwerber bei deinem Vater vorstellig wurden
Saß ich mit Freunden in der Kneipe
Verspielte die Zeit, anstatt sie dir zu schenken
Tat beiläufig was eines Mannes Pflicht in erster Nacht
Deine erfülltest du still in blutlakigem Rot.

Und du bliebst an meiner Seite

Ich wollte dich, so jung und lebensfroh
Ganz unten, Zierde meines Hauses
Wie eine Rose im Kragen meines Jacketts
Wollte dich zeigen und dann verschließen
Aus meinen Gedanken und meinen Plänen

Und du bliebst an meiner Seite

Dein Ausbildungsgeld steckte ich in ein Geschäft,
Viele folgten, kaum etwas blieb davon
Du wolltest lernen und ich machte dir Kinder
Euer Lachen gellte mir fordernd in den Ohren
Ich wurde ein ganzer Mann und ging den Dingen nach

Und du bliebst an meiner Seite

Ich habe gesoffen, gelogen, betrogen
Geschlagen, gehurt und mich
Mitten im Leben zum Affen gemacht
Deine stilles Lächeln begleitete mich
Die Kinder gingen frohgemut

Und du bliebst an meiner Seite

Du nanntest mich stark und roh und eisenhart
Nahmst doch meinen Kopf an deine Schulter
Dein Atem streichelte meinen Zorn hinweg
Du gewährtest mir Obhut und eine offene Tür
Den Tender stets gefüllt, die Taschen sorgfältig gepackt

Und du bliebst an meiner Seite

Jetzt bin ich müd und grau
Ein wenig lahm, doch Manns genug
Mir ins Gesicht zu lachen
Ich muss mir und der Welt so nichts
So gar nichts mehr beweisen

Ach Weib, komm her, lass mich an deiner Seite bleiben

Deine Haut, gefaltet vom Leben und von mir
Will ich mit meinen Händen glätten
Jede Furche wie zum ersten Mal durchwandern
Möchte endlich satt mich essen an dir und mir
Ein Leben habe ich gebraucht zu verstehen:
An deiner Seite kann ich einfach sein und bleiben
(Das Foto ist von einem Könner seines Faches: Wolfgang Gschwendtner ->
http://www.woifiart.de/wp/ )


Eine der vielen, vielen Möglichkeiten:

Ach Mann

Als die Brautwerber bei meinem Vater vorstellig wurden
Saßt du mit Freunden in der Kneipe
Verspieltest die Zeit, anstatt sie mir zu schenken
Tatest beiläufig was eines Mannes Pflicht in erster Nacht
Meine erfüllte ich still in blutlakigem Rot.

Und ich blieb an deiner Seite

Ich wollte dich, so jung und lebensfroh
Grenzenlos nah, in Gemeinsamkeiten wirrend
Wie einem Freund im geheimen Garten
Mich dir zeigen und mit dir teilen
Gedanken, Zukünfte und Schelmereien
Und ich blieb an deiner Seite

Mein Ausbildungsgeld stecktest du in ein Geschäft,
Viele folgten, kaum etwas blieb uns davon
Ich wollte lernen und du machtest mir Kinder
Unser Lachen verstandest du nie als Einladung
Du schlichst dich heimlich fort so manche Nacht und Tage

Und ich blieb an deiner Seite

Du hast gesoffen, gelogen, betrogen
Geschlagen, gehurt und dich
Mitten im Leben zum Affen gemacht
Mein stilles Lächeln erkanntest du nicht
Die Kinder gingen frohgemut

Und ich blieb an deiner Seite

Ich nannte dich stark und roh und eisenhart
Legte doch den Kopf an deine Schultern
Gewährte uns kurz Obhut in deinem Armen
Verschloss Wort und Traum ganz tief in mir
Ließ dich versorgt gehen ein weiteres Mal

Und ich blieb an deiner Seite

Jetzt bin ich wach, auch grau dazu
Ein wenig lahm, doch Weibs genug
Mir ins Gesicht zu lachen
Ich muss der Welt nichts mehr beweisen
Nicht mehr verstreuen Schein und Glut
Ach Mann, ich kann nicht mehr an deiner Seite schweigen

Meine Haut, gefaltet vom Leben und von dir
Will ich allein mit meinen Händen glätten
Jede Furche wie zum ersten Mal durchwandern
Möchte endlich satt mich essen am Leben und an mir
So viele Jahre habe ich gebraucht zu verstehen:

An deiner Seite, Mann, kann ich nicht einfach sein und leise bleiben

Endlichkeit

Die Sicht auf Welt, aufs eigene Leben,
auf Vergangenes und Zukünftiges
verändert sich in dem Maße,
wie der Begriff der Endlichkeit
sich langsam kauend duchs Gehirn frißt.

Dem Verstand schon zeitig verständlich,
folgen Herz und Gemüt
in Trippelschritten zögerlich,
trip, trap, trip, trippelditrap

Glut


Sie steht vor dem Spiegel. Schaut sich an. Zum ersten Mal seit Jahren schaut sie sich wirklich an. Ihr Blick gleitet über die Falten in ihrem Gesicht, über die scharfen Kanten um die Mundwinkel. Streift die hängende Haut an ihrer Kehle, die leicht nach vorne gebeugten Schultern, die müde geneigten Brüste und die aufdringliche Wulst ihrer Bauchschürze. Die noch recht straffen Pobacken und ihre wohlgeformten Schenkel werden von ihren Augen gestreichelt. Sie geht in die Knie und beobachtet das Spiel ihrer Beinmuskeln. Richtet sich auf, hebt die Arme zur Seite und dreht sich hin und her.

„Ach, Weib! Schön bist du!“
Ein Lächeln erstrahlt in ihrem Gesicht und sie streckt sich die Zunge heraus:
„Wo warst du nur die ganzen letzten Jahre? Wie konntest du dir nur so abhanden gekommen sein?“

Sie sinkt vor dem Spiegel auf die Knie, die Arme fest um sich geschlungen. Sie weiß es ja. Erinnert sich. An die unendliche Traurigkeit, an die kalte Einsamkeit nach dem Tod des geliebten Mannes vor Jahren. An die Wochen und Monate, in denen sie sich vergrub in Tränen und Unfassbarkeit. Dann der Zorn und die Wut, die sie doch nicht nach außen tragen konnte und in sich hineinschluckte. Die Jahre, die sie wie paralysiert in geschlossenen Räumen verbrachte, verbunden mit der Wirklichkeit nur noch durch die Scheinwelt des Fernsehens. Gefangen in sich selbst, umgeben von den staubigen Attributen einer längst vergangenen, verloren Zeit. Kreiselnd in Gedanken an Alter und Tod, versinkend in Selbstmitleid und einer schreienden Sehnsucht nach dem Unmöglichen.

Krank war sie damals, an Geist und Körper. Letzteren schändend durch zuviel Essen, so als könnte sie die Leere in sich füllen mit all der Schokolade und all dem ungesunden Fraß. Mauern aus Fett, hinter denen sie sich selbst verlor. Keine Luft zum Atmen. Keuchend in der Nacht, am Tage zu schwach weiter als bis zum Supermarkt zu schleichen. Sich selbst aufgebend, vom Hausarzt schon längst abgeschrieben. Ruhig gestellt mit Antidepressiva und Asthmamedikamenten. Leblos. Sich selbst nicht mehr spürend.

Und dann tauchte „Sie“ auf. Dieses kleine, rundliche Wesen. So viel jünger als sie selbst. Ein Wirbelwind, ein Bündel an Chaos und Energie. Hüpfte in ihr Leben, fiel von Jetzt auf Gleich vom Himmel und stand eines Morgens als stundenweise Hilfe vor ihrer so gut verbarrikadierten Tür. Dieses Lachen, diese Lebensfreude pur. Zuerst war sie nur sprachlos. Fühlte sich überrannt. Wollte sich zurückziehen, abwehren, raus werfen. Wie konnte dieses Wesen es wagen, so in ihr Leben zu platzen? Wie konnte dieses junge Ding sich anmaßen über ihren Schmerz einfach hinwegzuhören? Wie konnte sie sich erdreisten einfach den Fernseher auszumachen, die Vorhänge zu öffnen und die Fenster weit aufzureißen?

Wie zornig sie damals war. Oh ja, Anna weckte den Zorn in ihr. Ein heißes, brennendes Gefühl. Angeschrieen haben sie sich. Gestritten über Alles und Jenes. Nach einigen Wochen kam Anna jeden Tag. Nix mehr von wegen Arbeit und Betreuung. Anna tauchte zu den unmöglichsten Zeiten auf. Wollte mit ihr frühstücken morgens um sieben. Einkaufen kurz vor Ladenschluss und durch den Park laufen mitten in der Nacht. Ihr Lachen drang durch die Räume und zerfetzte die wohlige, sichere Decke der Trauer und der Einsamkeit. Eine andere Art von Atemlosigkeit breitete sich aus. Es gab keine Möglichkeit sich dagegen zu wehren. Anna ignorierte einfach jedes „Nein!“ indem sie ihre Hand schnappte und sie mit sich zog.

Nach einer Weile schleppte Anna sie ins Yoga. Provozierte sie so lange, bis sie sich auf dieser schmalen Matte wieder fand. Wie ein dickes Walross auf dem Land fühlte sie sich bei den ersten Übungen. Es schien keine Verbindung zu geben zwischen Kopf und Muskeln. Gestörte Leitungen. Ihr Körper tat nichts, aber auch gar nichts von dem, was ihr Kopf ihm befahl. Zum ersten Mal seit Jahren spürte sie, dass da irgendwas nicht stimmte, dass ihr Körper nicht mehr zu ihr gehörte. Weinend lag sie daraufhin stundenlang in den Entspannungsübungen. Tränen, millionenfach ungeweinte Tränen lösten Konten für Knoten, brannten Fettzelle um Fettzelle hinweg. Und mit jedem Schluchzer, mit jedem Seufzer, mit jedem kontrollierten Atemzug, mit jeder geschafften Übung sog sie das Leben in sich ein. Spürte, spürte sich wie nie zuvor. Sinnlichkeit, eine neue, unvermutete Sinnlichkeit breitete sich in ihr aus. Eine Tür öffnete sich und ließ sich nicht mehr schließen.

Drei Jahre ist dies nun her. Anna wohnt mittlerweile in einer anderen Stadt, hat ihr Studium abgeschlossen und arbeitet nun mit Kindern. Sie telefonieren oft miteinander. Oder unterhalten sich über das Internet. Oh ja, auch dies hatte Anna ihr beigebracht. Teufelszeug, unsinniger moderner Quatsch nannte sie selbst es damals. Anna lachte nur und schaffte über Freunde einen alten PC in ihr Wohnzimmer. Bestand hartnäckig darauf, dass sie sich nächtelang damit beschäftigte. Ohne recht zu wissen, wie ihr geschah, war sie plötzlich Besitzerin einer DSL-Leitung und betrat staunend eine neue Welt. Heute erscheint ihr der Umgang mit diesem Medium wie eine Selbstverständlichkeit. So viele neue Menschen hat sie darüber kennen gelernt. So viele Informationen in Wissen für sich verwandelt. Nein, sie möchte diese Art der Kommunikation nicht mehr missen.

Sie erhebt sich. Wischt das Nass aus ihrem Gesicht. Lächelt sich noch einmal zu und schickt in Gedanken eine tiefe Umarmung, einen dicken Kuss zu Anna.

Nun muss sie sich beeilen. Rasch schlüpft sie in die schon auf dem Bett bereit gelegten Kleider. Helle Kleider in sanften Farben. Seidige Strümpfe und hohe, passende Schuhe. Sie trifft sich heute Abend mit Helmut. Helmut, den sie über einen Chat kennen gelernt hat. Der sie seit Wochen mit Worten und zugeschickten Blumen umgarnt. Der ihre Vorlieben für klassische Literatur und modernen Tanz teilt. Der ganz in der Nähe wohnt und heute Abend mit ihr zu einem Konzert einer altbekannten Rockband ausgehen wird.

Ihre Finger zittern ein wenig, als sie leichte Schminke auflegt. Ihr Herz klopft ihr bis zum Hals. Sollte sie nicht doch lieber absagen? Eine Erkältung vortäuschen? Überraschend aufgetauchter Besuch? Allgemeine Unpässlichkeit? Doch kaum gedacht, sieht sie vor sich die hochgezogene Augenbraue von Anna und den zu einer saftigen Bemerkung bereits gespitzten Mund. Kichernd fährt sie noch einmal mit dem Kamm durch ihre Haare, schnappt sich die Handtasche, wirft ihrem Spiegelbild noch einen lächelnden Gruß zu und eilt zur Tür.

„ Oh ja, Anna, das Leben ist wunderschön und hört nicht auf, nur wegen einer dummen Angabe auf der Geburtsurkunde! Es ist nur eine Zahl, mehr nicht!“



(Das Bild ist aus dem wunderbaren Bildband "Starke Frauen", 1996

von Herlinde Koelbl)